Dark Desires - Im Bann der Unsterblichkeit
mochte es nicht, so genannt zu werden. Deshalb sagten alle bloß Nguyen. Jesse hatte seinen inzwischen besten Freund im Market Hotel kennengelernt, wo der Vietnamese regelmäßig als DJ auflegte. Das Market war einer der angesagtesten Schwulenclubs der Stadt und Jesses erste Arbeitsstelle in Melbourne gewesen. Als Barkeeper und ‚Mädchen für alles’. Allerdings war er nicht lange geblieben. Nach acht Wochen hatte er zur Überraschung aller gekündigt und in der Gold Bar angefangen. An den Kollegen hatte es nicht gelegen, mit denen war Jesse gut ausgekommen. Es war die Szene selbst gewesen. Der Alkohol. Die Drogen. Der unglaubliche Narzissmus. Es hatte genervt, ständig von Typen angebaggert zu werden, die bloß auf eine schnelle Nummer aus waren oder sich für Gottes Geschenk an die Männerwelt hielten. Gegen einen Flirt war nichts einzuwenden, aber in manchen Nächten war Jesse sich hinter seinem Tresen wie ein Stück Fleisch vorgekommen. Früher hatte er das alles mitgemacht: Drogen, One-Night-Stands, ein paar Minuten auf einer Toilette oder im dunklen Hinterzimmer eines Nachtclubs. Es war eine großartige Zeit gewesen und er hatte sich nicht darum gekümmert, was irgendwer von ihm dachte. Heute fühlte er sich in der Gold Bar wohl, wo die Räumlichkeiten überschaubar waren, die Musikrichtung ihm zusagte und alles ruhiger zuging. Keine Darkrooms mehr, keine benutzten Kondome in den Männerklos. Es machte Spaß, mit den weiblichen Gästen zu flirten. Weil es unverbindlich war und viele Frauen fasziniert reagierten, sobald er ihnen verriet, warum er kein Interesse an ihnen hatte. Für manche Frau war er danach zum Verbündeten für eine Nacht geworden und hatte mit ihr alles ausgetauscht, von Männergeschichten über Diätvorschläge bis zu Modetipps.
Seitdem Nguyen alle zwei Wochen in der Gold Bar auflegte, verirrten sich manchmal Gäste aus dem Market hierher. Um zu sehen, was Nguyen mit den verklemmten Heteros anstellte. Die meisten waren entzückt über die herrlich kitschige Innenausstattung und konnten gar nicht glauben, dass die Gold Bar ein Heteroschuppen war.
„Ich soll dich von Tobey grüßen“, fuhr Nguyen fort.
„Dankeschön. Wie läuft es in Brisbane?“ Nguyens Freund war vor ein paar Tagen zu einem seiner seltenen Verwandtenbesuche aufgebrochen. Tobey Sharp konnte „die verkrampfte Queenslander-Sippe“ nicht leiden, doch ein gewisses bevorstehendes Ereignis hatte ihn versöhnlich gestimmt. Vielleicht würde er sogar einige der Queenslander überreden können, für den großen Tag nach Melbourne zu kommen.
Nguyen verzog das Gesicht. „Alles läuft hervorragend. Sein Cousin Roger schleift ihn durch sämtliche Clubs der Stadt.“
Nguyens eifersüchtiger Tonfall brachte Jesse zum Lachen.
„Das ist nicht witzig!“
„Ich weiß. Eine Woche Hölle.“
„Genau! Ich vermisse Tobey so sehr, ich könnte die Wände hochgehen! Aber …“ Sein Freund machte eine gewichtige Pause und zog dann von irgendwo unter dem Pult ein Stück Papier hervor. Es war eine herausgerissene Seite aus einem Herrenkatalog. „Ich weiß endlich, was ich anziehe.“
Das hatte auch bloß zwei Monate gedauert.
Jesse betrachtete die Katalogseite, auf der ein junger Mann in einem maßgeschneiderten schwarzen Nadelstreifenanzug abgebildet war.
„Du kannst den Anzug haben, ich nehme den Typ.“
„Sei mal ernst.“
„Ist ja gut.“ Jesse versuchte, sich den quirligen Nguyen in einem schlichten Anzug vorzustellen. Erstaunlicherweise passte es. „Gefällt mir. Sehr edel.“
„Findet Tobey auch. Er wird den gleichen Anzug tragen. Wir werden großartig aussehen!“ Während Nguyen die Katalogseite wieder einsteckte, breitete sich ein allzu vertrauter deprimierter Ausdruck auf seinem Gesicht aus.
Tobey und Nguyen waren fest entschlossen gewesen, zu heiraten. Mit Zeremonie, Urkunde und allem, was dazugehörte. Bis die Realität sie auf den Boden der Tatsachen zurückholte. „Eingetragene Partnerschaft“ war das Beste, was die Gesetzgebung in Victoria ihnen zu bieten hatte. Fortschrittlich im Vergleich zu anderen Bundesstaaten und –gebieten Australiens, nicht zu sprechen von anderen Teilen der Welt. Trotzdem war es ein armseliger Ersatz für ein rauschendes Hochzeitsfest.
„Hey.“ Jesse knuffte seinen Freund liebevoll gegen den Oberarm. „Es wird eine wunderschöne Feier werden! Wen interessiert es, ob ihr ein blödes Stück Papier in der Schublade liegen habt? Deshalb liebt ihr euch nicht weniger.“
„Ich
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