Dark Love
brasilianischen Hoheitsgebiet der Punks. Ich habe hier gearbeitet, um meine Mutter und meine Schwestern zu unterstützen … hier in der Celestino-Mine. Und diese Kreaturen, diese, diese Menschen … haben Jack … sie haben ihn zerfleischt …«
Das war zu viel. Ich begann zu weinen. Ich grub die Fingernägel in die Wunden, die an meinen Armen klafften, wo die Monster mich gebissen hatten, und versuchte verzweifelt, mich durch den Schmerz in der Wirklichkeit zu verankern und meinen Verstand vom Abgrund zurückzudrängen.
Es funktionierte nicht.
Ich sprach es aus.
»Ich bin mir sicher, dass ich hier … sterben werde. Emily, Addy … es tut mir leid.« Tränen rannen mir in den Mund, milderten den Geschmack nach Erbrochenem. »Es tut mir leid.«
Meine weiße Hand glitt zwischen die schweren Samtvorhänge.
»Und?«
»Noch nicht«, murmelte ich.
Das Mädchen, das mir über die Schulter spähte, stieß hörbar die Luft aus und zupfte ungeduldig an ihren Ärmelaufschlägen herum. »Hast du’s gut mit deiner eigenen Kutsche. Die Linienkutsche geht mir wirklich auf die Nerven. Wenn sie zu spät dran ist, bekommt man Angst, dass man sie verpasst hat und wenn sie zu früh kommt, dann hat man sie tatsächlich verpasst …«
»Worüber regst du dich dann so auf? Du musst ja gar nicht die Linienkutsche nehmen. Du fährst doch mit mir nach Hause.«
»Weil wir jetzt schon seit fast einer Stunde hier sind … und du kennst mich doch, ich werde immer nervös, wenn ich warten muss, ganz egal, worauf. Weißt du noch, diese Computerpanne, wegen der wir unsere Abschlussnoten einen Tag zu spät bekommen haben? Ich dachte, das überlebe ich nicht.«
Ich hörte Pamelas hektischem Geplapper nur mit halbem Ohr zu, während mein Blick wieder draußen über den Hof wanderte. Das schmiedeeiserne Tor des Mädcheninternats St. Cyprian stand weit offen und ließ einen stetigen Strom elektrischer Kutschen hindurch. Sie waren glänzender und geschwungener als die Vehikel der ersten Viktorianer und sie waren so gebaut worden, dass der Fahrer im Wageninneren sitzen konnte. Die Kutschen der vornehmsten Familien waren aus elegant geformten Metalllegierungen gearbeitet und glänzten in dunklem Purpur oder Mahagonibraun. Einige der reichsten Mädchen besaßen sogar eigene Kutschen. Diese waren dann perlweiß, um die – meist imaginäre – Unschuld und Reinheit ihrer Besitzerinnen zu unterstreichen.
Die Kutsche, die mich abholen sollte, war nicht weiß, was mich zu einer Richtigstellung veranlasste. »Und sie gehört nicht mir, Pamma, sondern meiner Tante.«
»Ich weiß.«
Pamela Roe, meine beste Freundin aus Kindertagen, setzte sich vor mich auf ihren Schiffskoffer. Sie war von indianischer Herkunft und unauffälligem Aussehen, mit ihren dunklen, treuen Augen und dem langen, schokoladenbraunen Haar.
»Wir könnten die Koffer schon mal runter in den Hof tragen«, schlug ich vor.
Heute war der letzte Tag des Schulhalbjahres, und in den Gängen ging es lauter zu als gewöhnlich. Alle fuhren über die Ferien nach Hause. Ein Meer aus Koffern und wirbelnden Röcken wogte direkt vor dem Alkoven, in den Pam und ich uns mitsamt unserer Sachen gezwängt hatten. Das Fenster bot einen guten Ausblick über den überfüllten Schulhof.
»Da werden wir ja zerquetscht.« Pamelas Blick schätzte den Gang ab. »Zerquetscht werden ist nicht gerade sehr damenhaft. Da warte ich lieber auf einen Träger.«
»Das kann dann ja noch Jahre dauern. Find dich lieber damit ab.« Sämtliche Träger, die ich an diesem Tag hatte ausfindig machen können, waren damit beschäftigt, nach der Pfeife der Mädchen aus der Oberschicht zu tanzen. St. Cyprian war eine der renommiertesten Privatschulen der Territorien, ein gewaltiger Bau inmitten einiger Morgen sorgsam gepflegter Ländereien. Das Gebäude war im hochviktorianischen Stil gehalten, alles aus echtem Stein und Holz. Mit den Statuen und Wasserspeiern hier hätte man eine ganze Stadt bevölkern können. Kein Plastik, keine Holografie-Projektoren. In all den Jahren dort hatte ich mich oft gefühlt, als wäre ich zu ewigem Stillstand verdammt – regungslos und allein, inmitten des täglichen Tanzes der Schule … und heute war dieses Gefühl noch intensiver. Pamela und ich hockten in unseren eher schlichten Mänteln auf den Koffern, während überall um uns herum fröhliche junge Mädchen und Bedienstete umhereilten. Ihre Besitztümer waren so viel wichtiger und ihre Reiseziele so viel glamouröser als
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