Darkover 03 - Herrin der Falken
1.
Romilly war so müde, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
Es war dunkel im Falkenhaus; eine sorgfältig abgeschirmte Laterne, die von einem Dachbalken hing, war die einzige Lichtquelle. Aber die Augen des Falkenweibchens waren so wach, so wild und so erfüllt von Wut wie eh und je. Nein, nicht nur von Wut, sagte sich Romilly von neuem, auch von schrecklicher
Angst. Sie hat Angst. Sie haßt mich nicht, sie hat nur Angst. Sie spürte es in ihrem Inneren, das Entsetzen hinter der Wut, bis sie kaum noch wußte, was sie war – müde, die Augen brennend, kurz davor, erschöpft in dem schmutzigen Stroh zusammenzubrechen – und was aus dem Gehirn des Falken in ihren Geist floß: Haß, Furcht, rasender Hunger nach Blut und nach Freiheit.
Romilly zog das kleine Messer aus dem Gürtel und schnitt ein Stück von dem in Reichweite liegenden Kadaver ab. Dabei zitterte sie unter der Anstrengung, nicht um sich zu schlagen, sich nicht von der Fessel loszureißen, die sie hielt – nein, nein, nicht sie, die den Falken auf dem Block festhielt – erbarmungslose Lederriemen, die in seine Ständer einschnitten. Die Flügel des Falkenweibchens peitschten heftig die Luft. Instinktiv zuckte Romilly zurück, und der Streifen rohen Fleisches fiel ins Stroh. Das Mädchen fühlte den Kampf, die Wut und die wahnsinnige Furcht, als bänden die Lederriemen, die den großen Vogel an den Block fesselten, auch sie, als schnitten sie qualvoll auch in ihr Leben… Sie versuchte, sich zu bücken, ruhig nach dem Fleisch zu suchen. Aber die Emotionen des Falken, die in ihren Geist einströmten, waren zuviel für sie. Sie bedeckte die Augen mit den Händen, stöhnte laut auf und ließ es alles Teil von ihr werden, die flatternden Flügel, die schlugen und schlugen… Als ihr das vor einem Jahr zum ersten Mal passierte, war sie in Panik aus dem Stall geflohen und gerannt und gerannt, bis sie eine Handbreit vom Klippenrand entfernt stolperte und fiel. Dort ging es von Falkenhof steil hinunter bis auf die steinigen Ufer des Kadarin.
Sie durfte es nicht so tief in ihren Geist eindringen lassen, sie mußte daran denken, daß sie menschlich, daß sie Romilly MacAran war… Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Die Worte der jungen Leronis fielen ihr ein, die – kurz und heimlich – mit ihr gesprochen hatte, bevor sie in den Turm von Tramontana zurückkehrte.
Du hast eine seltene Gabe, Kind – eine der seltensten von denen, die man Laran nennt. Ich weiß nicht, warum dein Vater so verbittert ist, warum er nicht erlauben will, daß du und deine Schwester und deine Brüder getestet und im Gebrauch dieser Gaben ausgebildet werdet. Er weiß doch bestimmt, daß ein unausgebildeter Telepath eine Bedrohung für sich und alle Menschen seiner Umgebung ist. Dein Vater besitzt die Gabe selbst in vollem Ausmaß!
Romilly wußte es, und sie vermutete, daß auch die Leronis es wußte. Aber aus Loyalität zu ihrem Vater wollte sie außerhalb der Familie nicht darüber sprechen, und die Leronis war immerhin eine Fremde. Der MacAran hatte ihr Gastfreundschaft gewährt, wie er es bei jedem Besucher getan hätte. Doch er hatte sich kalt geweigert, die Falkenhof-Kinder auf Laran testen zu lassen, zu welchem Zweck die Frau eigentlich gekommen war.
»Ihr seid mein Gast, Domna Marelie, aber ich habe einen Sohn an die verfluchten Türme verloren, die unser Land verpesten und die Söhne – aye, und auch die Töchter – anständiger Männer an sich locken, weg von den Pflichten, die sie Heim und Familie gegenüber haben! Ihr mögt Schutz unter diesem Dach suchen, solange der Sturm andauert, und werdet alles erhalten, was einem geehrten Gast zukommt. Nur unterlaßt es, in den Seelen meiner Kinder herumzuschnüffeln!«
Einen Sohn an die verfluchten Türme verloren – Romilly dachte an ihren Bruder Ruyven, der vor vier Jahren über den Kadarin in den Turm von Neskaya geflohen war. Und wahrscheinlich wird Vater noch einen Sohn verlieren. Denn sogar ich sehe, daß Darren eher für den Turm oder das Kloster von Nevarsin geeignet ist als zum Erben von Falkenhof. Darren und Ruyven waren zur Ausbildung nach Nevarsin geschickt worden, wie es der Brauch von den Söhnen eines Bergland-Adligen verlangte, und Darren wäre gern dort geblieben. Aber gehorsam dem Willen seines Vaters kehrte er nun heim, um seine Pflichten als Erbe zu übernehmen.
Wie konnte Ruyven seinen Bruder so im Stich lassen? Darren schafft das nicht ohne einen Bruder an seiner Seite.
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