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Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia Kostenlos Bücher Online Lesen
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überzogen. Doch er war 1906 in San Francisco gewesen, war die Market Street hinuntergeflohen und knapp den Flammen entronnen und wusste nur zu gut, was die Natur anrichten konnte, wenn die Umstände es zuließen.
    Er hatte die Ereignisse der letzten Nacht verschlafen. Sollten die Passagiere in den Himmel glotzen, statt zu schlafen; er zog die gemütliche Koje vor. Vor Tagesanbruch scheuchte ihn ein nervöser Funker aus dem Schlaf. Davies sah den Marconi-Verkehr durch, dann befahl er dem ersten Maschinisten, die Dampfkessel hochzufahren, und seinem ersten Steward, für die ganze Crew Kaffee zu kochen. Seine Sorge war provisorischer Natur, seine Haltung nach wie vor skeptisch. Die Olympic und die Kronprinzessin Cecilie waren nur Stunden weiter östlich der Oregon gewesen. Sollte es einechtes CQD geben, würde er den Ersten Offizier anweisen, unverzüglich alle Vorbereitungen für eine Bergungsaktion zu treffen; bis dahin… na ja, man würde in Bereitschaft bleiben.
    Den ganzen Morgen überwachte er die Funksprüche. Nichts als besorgte Fragen, weitergereicht (›GMOM‹ – good morning, old man!) im fröhlichen aber nervösen Jargon einer winzigen Schiffsfunkerzunft. Seine Besorgnis wuchs. Übernächtigte Passagiere, aufgescheucht durch das unversehens heftigere Stampfen der Maschinen, verlangten eine Erklärung. Beim Lunch erklärte er einer Abordnung der Besorgten Erster Klasse, er wolle die Zeit wieder einholen, die man durch ›Eisbildung‹ verloren habe, und bat, vorerst von Telegrammen Abstand zu nehmen, solange die Marconi-Apparatur repariert werde. Sein Steward gab diese Desinformation an die Zweite Klasse und das Zwischendeck weiter. Nach Davies Erfahrung waren Passagiere wie Kinder, schmollende Wichtigtuer, stets bereit, eine oberflächliche Erklärung hinzunehmen, wenn sie nur ihre tiefe und unaussprechliche Angst vor dem Meer beruhigte.
     

     
    Gegen Mittag legte sich der Wind. Laues Sonnenlicht brach durch die zerklüftete Wolkendecke.
    Am Nachmittag meldete der vordere Ausguck etwas, das nach Nordosten trieb und aussah wie ein Wrackteil oder ein gekentertes Rettungsboot. Davies verlangsamte das Tempo und manövrierte näher heran. Er wollte eben den Befehl geben, die Boote auszusetzen und die Frachtnetze auszufahren, als der Zweite Offizier das Fernglas absetzte und sagte: »Sir, ich glaube, das ist gar kein Wrack.«
    Sie kamen längsseits. Es war kein Wrackteil.
    Kapitän Davies konnte auch nicht sagen, was es war, und das machte ihm Kopfschmerzen.
    Es tanzte in der Dünung, lahm und leblos, glitzernde Wintersonne auf den langen Flanken. Irgendein riesiger, aufgedunsener Tintenfisch oder Krake? Irgendein Teil von etwas, das gelebt hatte, kein Zweifel; etwas Ähnliches hatte Davies in siebenundzwanzig Jahren zur See nicht gesehen.
    Rafe Buckley, sein junger Erster Offizier, starrte auf das Ding, das an den Bug der Oregon prallte und träge, im kalten, stillen Wasser gegen den Uhrzeigersinn kreiselnd, nach achtern trieb. »Sir«, sagte er, »was halten Sie davon?«
    »Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll, Mr. Buckley.« Er wünschte sich vor allem, er hätte das Ding nicht zu Gesicht bekommen.
    »Es sieht… na ja, wie eine Art Wurm aus.«
    Es bestand aus Segmenten, ringförmigen, wie ein Wurm eben. Aber Wurm zu sagen, hieß, sich einen Wurm vorzustellen, der groß genug war, einen Schornstein der Oregon zu verschlingen.
    Und kein Wurm hatte jemals solche ausgefransten, spitzenartigen Wedel, Flossen oder Kiemen getragen, die in gewissen Abständen aus dem Leib der Kreatur ragten. Und dann die Farbe, klebriges Rosa und öliges Blau, wie der Daumen eines Ertrunkenen. Und der Kopf… falls man diesen leeren, augenlosen Sägezahnrachen so nennen wollte!
    Als er achtern zurückfiel, drehte sich der Wurm um seine Längsachse und zeigte einen glitschigen, weißen Bauch, der von Haien attackiert worden war. Passagiere drängten sich auf dem Promenadendeck, doch nicht lange, und der Gestank trieb alle bis auf ein paar Hartgesottene wieder nach unten.
    Buckley strich über seinen Schnurrbart. »Was, um Himmels willen, sollen wir sagen?«
    Sag ihnen, es war ein Seeungeheuer, dachte Davies. Sag ihnen, es war ein Krake. Das könnte sogar stimmen. Doch Buckley wollte eine ernsthafte Antwort.
    Davies bedachte seinen besorgten Ersten mit einem langen Blick. »Je weniger wir sagen«, schlug er vor, »umso besser.«
    Das Meer war voller Geheimnisse. Und das war der Grund, warum er es

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