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Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia Kostenlos Bücher Online Lesen
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»Sag mal«, sagte Guilford, »wirst du es nicht leid, diese lumpigen Army-Klamotten zu tragen?«
    »Das waren meine letzten Menschenkleider. Ich fänd es komisch, etwas anderes zu tragen. Und gar nichts tragen, wär zu auffällig.«
    »Ist ein Weilchen her«, sagte Guilford.
    »Dreißig Jahre«, sagte der Gott. »Mehr oder weniger.«
    »Ist das wie in einem dieser Filme? Du kommst, um mir den roten Teppich auszurollen? Vom Totenbett bis in den Himmel und dazu spielen Violinen?«
    »Nein. Aber ich begleite dich nach Hause, wenn’s dir recht ist.«
    »Du führst wirklich nichts im Schild? Einfach nur Slums besichtigen? Nicht dass ich mich nicht freue…«
    »Ich möchte dir eine Frage stellen. Aber das kann warten. Gehen wir? Du weißt doch, beim Gehen kann ich besser denken.«
     

     
    Auf dem Waldpfad plauderten sie munter drauflos. Guilford hatte keine Angst vor dem Wachsoldaten, aber nervös war er.
    Er ließ sich über Darwinia aus, wie sich der Kontinent verändert hatte, wie die Städte, die Eisenbahn und die Flugzeuge Darwinia zivilisiert hatten, obschon es noch immer ein weites Hinterland gab, wo man auf Nimmerwiedersehen verschwinden konnte… als ob der Wachsoldat das nicht wüsste.
    »Du ziehst die Küste vor«, sagte das Phantom.
    So war es. Die Küste sagte ihm zu. Vielleicht weil sich hier so gegensätzliche Elemente begegneten und vermischten: die alte und die neue Welt; Meer und Land. Vergangenheit und Zukunft.
    Während der Wachsoldat geduldig zuhörte, war Guilford abgelenkt. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Das ist das erste Mal, hab ich Recht?«
    »Wie bitte?«
    »Der erste Freundschaftsbesuch. Mal vorbeischauen, bevor der Bursche ins Gras beißt.«
    »Das ist kein Freundschaftsbesuch.«
    »Schade. Was dann?«
    »Denk mal zurück«, sagte der Wachsoldat. »Vor dreißig Jahren, Guilford, da hab ich dir ein Leben wie meines angeboten.«
    »Nach der Bannung«, erinnerte sich Guilford. »Als wir beide tot waren.«
    »Weißt du noch, was du geantwortet hast?«
    »Flüchtig.« Eine Lüge. Er wusste noch jedes Wort.
    »Du hast gesagt: Ich will haben, was ich nie haben durfte. Ich will alt werden, bevor ich sterbe.«
    »Hm-hm.«
    »Es war nicht leicht. Knochen aus Staub. Fleisch aus Luft. Ein alternder, sterblicher, menschlicher Leib.«
    »Stimmt. Ich kenne keinen, der öfter zum Leben erweckt wurde als ich.«
    »Ich bin hier, weil ich wissen möchte, ob es sich gelohnt hat.«
    »Das wolltest du mich fragen? Deshalb diese Stippvisite?«
    Sie näherten sich dem Haus. Der Wachsoldat blieb im Schatten der Bäume, als wolle er vermeiden, dass Karen ihn sah. Im Halbdunkel war er fast unsichtbar, ein richtiges Phantom, nicht greifbarer als eine Brise.
    »Ich wurde als Mensch geboren«, sagte der Wachsoldat. »Damals, als die Sterne noch jung waren. Aber seither war ich nicht bloß menschlich. Du dagegen hast etwas erlebt, das ich nie erlebt habe. Du bist alt geworden. Weil du es so gewollt hast. Nun sei ehrlich: Hat es sich gelohnt?«
    Guilford wusste nicht, was er sagen sollte. Die Vorstellung, sich selbst ein Zeugnis auszustellen, war ihm zuwider. Es gab Dinge, die man besser anderen überließ, ganz gewiss seinen Nachruf. Doch er ließ sein Leben Revue passieren, sein Leben nach der Bannung – wie er Lily, den Menschen, kennen gelernt hatte; wie er Karen geheiratet und ihr ein Zuhause geschaffen hatte; die Gezeiten von Geburt und Tod, die jämmerliche und verzweifelte Selbstinszenierung der Menschen. Ich wurde 1898 geboren, dachte Guilford: vor mehr als einem Jahrhundert.
    Einen Gott mochte das nicht sonderlich beeindrucken, aber Guilford war mächtig stolz.
    Die Frage war einfach, die Antwort auch.
    »Natürlich hat es sich gelohnt.«
    Er sah sich nach dem Wachsoldaten um, doch der war fort, als habe es unter den Bäumen nie etwas Greifbareres als Licht und Schatten gegeben.
     

     
    Karen weinte, als er ihr erzählte, was der Arzt gesagt hatte, doch am Abend, als er ihr die Tränen trocknete, da riss sie sich zusammen. Er sei ja schließlich noch nicht tot, meinte sie. Es klang, als sei der Tod ein Schuldschein, ausgestellt auf einen notorischen Falschspieler: eine Schuld, von der nicht feststand, ob sie jemals fällig wurde.
    Er liebte diese Härte an ihr. Es war, als ob man in einen frischen, grünen Apfel bisse. Sie holte die Flasche für besondere Anlässe aus ihrem Versteck, einheimischen Whisky – die Hochzeits- und Begräbnisflasche, wie Karen sie sonst immer nannte –, und trank

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