Darwinia
blieb während des Generalstreiks geschlossen und für eine Haushälterin, die sich hätte kümmern können, fehlte das Geld. Also sah Guilford zu, wie Druckplatten und Lithographien entstanden, und lernte die Anfangsgründe dieses Handwerks. In den langen Pausen zwischen den Aufträgen las Guilford immer wieder seine Funk-Magazine und fragte sich, ob je eines der grandiosen Drahtlos-Projekte, die die Autoren entwarfen, zum Zuge kam – ob Amerika jemals eine andere DeForrest-Röhre [7] bauen würde oder ob das Zeitalter der Erfindungen zu Ende war.
Oft hörte er zu, wenn sein Vater sich mit den beiden übriggebliebenen Angestellten der Druckerei unterhielt, einem frankokanadischen Graveur namens Ouillette und einem mürrischen russischen Juden namens Kominski. Sie redeten meist leise und in düsteren Farben. Sie redeten miteinander, als sei Guilford nicht anwesend.
Sie redeten über den Börsenkrach und den Bergarbeiterstreik, die Arbeiterbrigaden und die Lebensmittelkrise und die steigenden Preise.
Sie redeten über die Neue Welt, das neue Europa, jene unwirtliche Wildnis, die ein solches Loch in die Weltkarte gerissen hatte.
Sie redeten über Präsident Taft und die Kongressrevolte. Sie redeten über Lord Kitchener, [8] der von Ottawa aus die kläglichen Überreste des British Empire leitete; sie redeten über die rivalisierenden Päpste und die Kolonialkriege, die die Besitzungen von Spanien, Deutschland und Portugal verwüsteten.
Und nicht selten redeten sie über Religion. Guilfords Vater war geborener Episkopale und durch seine Heirat Unitarier – war also alles andere als ein Dogmatiker. Für Ouillette, den Katholiken, war das Schicksal Europas ein ›offenkundiges Wunder‹. Kominski fühlte sich unwohl bei diesen Debatten, räumte aber freimütig ein, die Neue Welt müsse ein Akt göttlichen Eingreifens sein: Was sonst hätte es sein können?
Guilford war bedacht, nicht zu stören und sich ja nicht einzumischen. Falls man ihm überhaupt eine Meinung zugestand, so hatte er sie gefälligst für sich zu behalten. Er hielt dieses Gerede über Wunder für abwegig. Wie immer man es sah, war die Verwandlung Europas natürlich ein Wunder, unverhofft, unerklärlich und ganz deutlich im Widerspruch zu allen Naturgesetzen.
War das so?
Dieses Wunder, überlegte Guilford, trug keine Unterschrift. Gott hatte es nicht verkündet. Es war einfach passiert. Es war ein Ereignis, angekündigt von seltsamen Leuchterscheinungen und begleitet von eigenartigem Wetter (Tornados in Khartum, wie er gelesen hatte) und geologischen Störungen (beträchtliche Erdbeben in Japan, Gerüchte über verheerende Beben in der Mandschurei).
Für ein Wunder, überlegte Guilford, hatte es verdächtig viele Nebenwirkungen… es war keineswegs so sauber und entschieden, wie man sich ein Wunder vorstellte. Doch wenn sein Vater eben diese Einwände machte, reagierte Kominski mit Verachtung. »Die Sintflut«, sagte er. »Das war keine saubere Tat. Die Vernichtung von Sodom. Lots Weib. Eine Salzsäule: Macht das Sinn?«
Vielleicht nicht.
Guilford ging an den Globus, der auf dem Bürotisch seines Vaters stand. Auf den ersten vorsichtigen Zeichnungen in den Zeitungen hatte man einen Ring oder eine Schleife über die alten Karten gemalt. Diese Schleife halbierte Island, umschloss die Südspitze Spaniens und einen Halbmond von Nordafrika, durchquerte das Heilige Land und schnitt in einem provisorischen Bogen durch die russische Steppe und den nördlichen Polarkreis. Guilford drückte die Handfläche auf Europa, verdeckte die überholte Kartographie. Terra incognita, dachte er. Die Hearst-Blätter, [9] der nationalen religiösen Renaissance folgend, nannten den neuen Kontinent zuweilen ›Darwinia‹, womit man scherzhaft zum Ausdruck brachte, dass dieses Wunder die Naturgeschichte Lügen strafe.
Aber dem war nicht so. Davon war Guilford fest überzeugt, auch wenn er es für sich behielt. Kein Wunder, dachte er, aber ein großes Rätsel. Unerklärlich, aber nicht wirklich unerklärbar.
Diese ganze Landmasse, diese Meerestiefen, Gebirge und Eiswüsten, alles das hatte sich über Nacht verwandelt… Der Gedanke war beklemmend, und noch beklemmender war es, sich das ganze Hinterland vorzustellen, das er mit der Hand abgedeckt hatte. Man kam sich so nichtig vor.
Ein Rätsel. Wie jedes Rätsel wartete es auf eine Frage. Auf etliche Fragen. Fragen, die wie Schlüssel waren, mit denen man einem widerspenstigen Schloss zu Leibe rückte.
Er schloss
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