Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 2. Buch Des Blutes - 2

Das 2. Buch Des Blutes - 2

Titel: Das 2. Buch Des Blutes - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
Beinen.«
    »Per Anhalter nicht.«
    Judd schüttelte den Kopf: Sein Gesicht war schlaff, sein Blick wirr, verloren. »Ist doch klar, Mick, daß die alle mitgekriegt haben, was da vor sich ging. Die Leute auf den Bauernhöfen, die sind todsicher abgehauen, während die Menschen da droben durchgedreht sind. Auf dieser Straße findest du kein Auto, jede Wette - höchstens vielleicht ein paar saublöde Touristen wie uns, und von denen fällt keinem ein, jemand wie uns mitzunehmen.«
    Er hatte recht. Sie sahen wie Metzger aus: blutbesudelt.
    Fettverschmiert glänzten ihre Gesichter, irrsinnig ihre Augen.
    »Bleibt uns nur ein Weg übrig«, sagte Judd, »seiner.«
    Er deutete die Straße rauf. Die Berge waren jetzt dunkler; das Sonnenlicht auf den Hängen war plötzlich verloschen.
    Mick zuckte mit den Achseln. So oder so hatten sie eine Nacht auf der Straße vor sich, das war klar. Aber irgendwohin gehen wollte er - egal wohin -, Hauptsache, er vergrößerte dabei den Abstand zwischen sich und den Toten.
    In Popolac war eine Art Friede eingetreten. Anstelle tobsüchtigen Entsetzens herrschte eine dumpfe Starre, eine schafsartige Hinnähme der Welt, wie sie nun mal war. Verkeilt in ihre Positionen, allseitig aneinandergeschnallt, -gefesselt und -geschirrt in einem lebenden System, das es keiner einzelnen Stimme erlaubte, vernehmbarer als irgendeine andere zu sein, und keinem Rücken, sich weniger abzuschinden als der seines Nachbarn, ließen alle es zu, daß die ruhige Stimme der Vernunft einem umnachtenden Konsens wich. Krampfartig wurden sie zu einem Sinnen, einem Denken, einem Wollen verschweißt. Im Verlauf weniger Augenblicke wurden sie der eigensinnige Koloß, dessen Kultbild sie so glänzend neugeschaffen hatten. Die Illusion kleinlicher Individualität wurde von einem unwiderstehlichen Ansturm kollektiven Empfindens hinweggefegt. Das war nicht die rohe Leidenschaft eines Menschenhaufens, sondern eine telepathische Aufwallung, die die Stimmen Tausender zu einem einzigen, unwiderstehlichen Befehl verschmolz.
    Und die Stimme sagte: Geh!
    Die Stimme sagte: Schaff diesen grauenhaften Anblick fort, mir für immer aus den Augen.
    Popolac lief in die Berge, und seine Beine machten Schritte von bald einem Kilometer Länge. Jeder einzelne, ob Mann, Frau oder Kind, war augenlos in diesem brodelnden Turm. Sie sahen nur durch die Augen der Stadt. Sie waren gedankenlos, aber dazu bestimmt, die Gedanken der Stadt zu denken. Und sich selbst, in ihrer schwer dahinstapfenden, gnadenlosen Kraft, hielten sie für unsterblich. Riesenhaft und wahnverwirrt und unsterblich.
    Nach drei Kilometern Fußmarsch rochen Mick und Judd Benzin in der Luft, und nicht sehr viel später stießen sie auf den VW. Er hatte sich in dem schilfverwucherten Entwässerungsgraben seitlich der Straße überschlagen. Und war nicht in Brand geraten.
    Die Fahrertür stand offen, und der Körper von Vaslav Jelovsek war herausgefallen. Sein Gesicht spiegelte ruhiggefaßte Bewußtlosigkeit. Äußerlich waren keinerlei Anzeichen einer Verletzung zu sehen, bis auf die ein, zwei kleinen Schnittwunden in seinem unauffälligen Gesicht. Behutsam zogen sie den Dieb aus den Unfalltrümmern und aus dem Dreck des Grabens hoch auf die Straße. Er stöhnte ein bißchen, als sie an ihm herummachten: Micks Pulli zu einem Kissen zusammenrollten, seinen Kopf damit abstützten, ihm Jacke und Krawatte abnahmen.
    Ganz unvermittelt öffnete er die Augen. Er starrte sie beide an.
    »Sind Sie okay?« fragte Mick.
    Einen Moment lang sagte der Mann nichts. Er schien nicht zu verstehen. Dann: »Englisch?« Schwerer Akzent, aber die Frage war ganz klar.
    »Ja.«
    »Habe Sie reden gehört. Englisch.« Er runzelte die Stirn und zuckte zusammen.
    »Haben Sie Schmerzen?« fragte Judd.
    Der Mann fand das anscheinend amüsant.
    »Hab’ ich Schmerzen?« wiederholte er; Qual und Belustigung hielten sich die Waage in seinem verzerrten Gesicht. »Ich werde sterben«, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.
    »Nein«, sagte Mick, »Sie sind okay.«
    Der Mann schüttelte den Kopf; seine Nachdrücklichkeit war absolut. »Ich werde sterben«, sagte er nochmals völlig entschieden. »Ich möchte sterben.«
    Judd bückte sich näher zu ihm hinunter. Die Stimme des Mannes wurde zunehmend schwächer.
    »Sagen Sie uns, was wir tun sollen«, verlangte Judd. Der Mann hatte die Augen geschlossen. Rücksichtslos schüttelte Judd ihn wach. »Sagen Sie’s uns!« verlangte er nochmals, und alles Mitleid

Weitere Kostenlose Bücher