Das 2. Gesicht
erste Mal. Es war schon sehr lang her. Das erste Mal, dass er sie gespürt hatte, diese heiße Welle, die über ihn schwappte, die ihm die Luft nahm, war wie Ertrinken, wie ein kleiner Tod. Alles wurde rot, blutrot, er konnte nicht atmen, alles war nass, von Blut, ihrem Blut, seinem Blut, diesem verdammten, vergifteten Blut, das er stundenlang mit dem Gartenschlauch abspritzte, das er mit Toilettenreiniger versuchte zu entfernen, das er mit Bleiche verdünnte. Er versuchte es wegzuätzen, aber es ließ sich nicht wegwaschen, nicht wegschrubben, es war in ihm, in seinen Adern, es floss das gleiche verderbte Blut in seinen Adern. Bei dem Gedanken an dieses erste Mal spürte er, wie seine Hose zu eng wurde, er musste nur die Augen schließen und es war alles wieder da. Er öffnete den Reißverschluss seiner Jeans und schwelgte in seliger, blutroter Erinnerung, in die sich ihr Gesicht mischte, dieses neue Gesicht, das so unschuldig daher kam und sich über das erste all dieser Gesichter legte.
Bereits als er sie das erste Mal gesehen hatte, damals auf dem Flughafen, trug sie eine rote Aura. Sie war gekennzeichnet.
Berlin, Unter den Linden
Irgendwie ging auch dieser Tag vorbei. Statt Wasser trank George Osterman zu seiner Lesung heißen Tee mit Honig. Als ich ihm den heißen Tee brachte, sah ich ihn zum ersten Mal lächeln.
Der Saal musste wegen Überfüllung geschlossen werden. Jeder wollte ein Buch kaufen, jeder wollte ein Autogramm. Auch „Dead End – Ohne Ausweg“ würde wieder ein Riesenerfolg werden in Deutschland. Während er las, saß ich auf einem Stuhl in der Ecke und hielt die Augen geschlossen. Diese unglaubliche Stimme – sie nahm mich total gefangen. Als ich einmal gegen das Licht blinzelte, sah ich, wie er mir einen durchdringenden Blick zuwarf. Hatte er etwa gedacht, ich sei eingeschlafen?
Nachdem alle Fans bedient waren, wollte der Geschäftsführer noch einen kleinen Umtrunk machen.
„No!“, entschied Jay barsch
.
George hatte von dem Geplänkel nichts mitbekommen, er nahm mich an der Hand. „Let’s go“, sagte er nur.
Das war alles. Wir verließen den Buchladen, in dem Jay sich noch weiter unbeliebt machte, indem er Unfreundlichkeiten von sich gab. Ich hatte ein leise pochend schlechtes Gewissen, denn diese Buchhandelskette war für unseren Verlag sehr wichtig und ich hatte mich wirklich nicht geziemend verabschiedet.
George ließ meine Hand einfach nicht los und ich dachte nicht daran, sie ihm zu entziehen. Wir liefen „Unter den Linden“ entlang, stumm, keine Frage nach dem Wohin oder dem Und jetzt. Wir liefen einfach auf dem Mittelstreifen, Hand in Hand. Es war eine sternenklare Nacht im späten September, die Linden strahlten wie Kinderaugen zu Weihnachten, die ganze Stadt sah nach dem Regen am Nachmittag aus wie frisch gewaschen.
Wir sprachen nicht über die Lesung, nicht über seine Bücher, nicht über die Tour, die uns bevorstand.
„Erzähl mir von dir, Julia“, sagte er.
Was sollte ich ihm erzählen, was gab es schon Interessantes an einer 27-jährigen Marketingfrau, die seit zwei Monaten ihren Traumjob in einem Verlag hatte? Ich sagte es wohl so, jedenfalls so ungefähr. Aber mein Job schien ihn nicht zu interessieren.
„Was macht dein Freund?“, fragte George.
„Es gibt keinen“, musste ich gestehen. Es war mir peinlich, es hörte sich so an, als ob ich auf der Suche wäre. Wobei der Eindruck sicher nicht so ganz falsch gewesen wäre. Ja, ich war auf der Suche nach Mr. Right. Jedenfalls bis zu diesem Tag, bis zu dem Moment, als mir Osterman das erste Mal in die Augen geschaut hatte.
Es war wirklich unfair, ich wusste alles über ihn, zumindest das, was er die Öffentlichkeit wissen lassen wollte. Seine Biografie kannte ich auswendig.
Ich sagte: „Es kann nicht jeder so eine märchenhafte Biografie haben wie du.“
Osterman schnaubte. „Meine Biografie ist nicht märchenhaft, sondern beschissen.“ Ich wusste, worauf er sich bezog. Osterman war als Kleinkind zur Adoption freigegeben worden. Vielleicht hatte er damit Glück gehabt. Dennoch hatte er für seine Adoptiveltern nicht viele gute Worte übrig gehabt. Zumindest hatten sie aber für eine vernünftige Ausbildung gesorgt. Sein Adoptivvater war Englischlehrer gewesen.
„Aber dein Erfolg, dein Aufstieg, der ist märchenhaft.“
„Was ist Erfolg im Leben, Julia?“, fragte er mich.
„Wenn man das tun kann, was man gern macht“, habe ich gesagt.
Wir blieben vor dem Hoteleingang stehen. Er schaute
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