Das 2. Gesicht
feststellen sollte, ob der Tod nun tatsächlich eingetreten war. Außerdem hatte ich keine Ahnung, was die Instrumente von sich geben würden. Es blieben mir also nur Sekunden zwischen dem Eintritt des Todes und dem Zurückbetten des Kopfes auf das Kissen. Ich hatte keinerlei Erfahrung, wie lange ich warten musste, bis jede Art von Wiederbelebungsmaßnahme ohne Erfolg war. Ich hatte nur einen Versuch. Als die Instrumente, an denen George angeschlossen war, einen schrillen Ton von sich gaben, hob ich seinen Kopf an und schob das Kissen wieder darunter. Dann lief ich schreiend aus dem Zimmer: „Hilfe! Hilfe! So helft mir doch!“
Sie liefen alle zusammen. Eine Herzmassage kam wegen der Verletzungen einfach nicht in Frage. Und so standen sie hilflos neben dem Bett, während ich wimmernd in der Ecke stand. Niemand, wirklich niemand auf dieser Station ist auf den Gedanken gekommen, dass ich Georges plötzlichen Atemstillstand verursacht haben könnte. Auch die Polizei nicht, die sie selbstverständlich rufen mussten.
Ich hatte getan, was getan werden musste. Es war völlig klar, dass ich J.R.s Äußerungen über das zweite Gesicht meines Mannes falsch verstanden hatte. Er hatte es nicht metaphysisch gemeint, sondern wörtlich. Der berühmte Thrillerautor George Osterman hatte noch ein anderes, ein mörderisches Gesicht. Der eine half dem anderen: bei der Zerlegung der Leichen, bei dem Festhalten auf Video, bei dem Geben von Alibis im Zweifelsfall. Die Köpfe hatten die mörderischen Brüder aufgehoben, um sich gemeinsam daran zu ergötzen. Der eine killte Frauen, die ihn an seine Mutter erinnerten, der andere zerstückelte Frauen, anstatt sich selbst zu zerstückeln. Hass und Selbsthass, beides hatte sie zu Mördern gemacht. Lag so was vielleicht doch in den Genen?
Bei meiner Fahrt von Pine Island nach Fort Myers war mir klar geworden, dass es keinen anderen Ausweg gab. Denn kein Gericht dieser Welt würde George jemals für die Morde an den Frauen verurteilen. Mit einem Anwalt wie Silverstein würde er alle Schuld auf seinen Bruder abwälzen können und wahrscheinlich weitermorden. George selbst hatte mir eine Handlungsanweisung hinterlassen. Julia hatte mal wieder funktioniert.
Die Journalisten stürzten sich auf mich wie ein Rudel hungriger Schlittenhunde, als ich von der Polizei aus dem Krankenhaus abgeführt wurde.
William Silverstein war schneller zur Stelle als die Feuerwehr. Auf dem Polizeirevier behandelte man mich inzwischen mit mehr Respekt, als das noch vor wenigen Wochen der Fall war. Selbstverständlich musste eine Autopsie gemacht werden. Hatte ich davor Angst? Ich hoffte, dass das Kissen keine Fäden in der Nase oder im Mund hinterlassen hatte, aber ich konnte immer noch sagen, dass ich ihm mit dem Laken das Gesicht abgewischt hatte. Nicht nur Aletha konnte bezeugen, dass ich Tag für Tag am Bett meines Mannes gesessen hatte und ihm das Gesicht gekühlt und die Lippen benetzt hatte.
Die größte Angst der Ärzte war, dass ich sie auf einen Kunstfehler verklagen würde. Deshalb sagten sie alle für mich aus. Es wurde alles irgendwie erklärt. Die Verhandlung vor dem Geschworenengericht war dann nur mehr eine Formsache. George hatte versprochen, dass mir nichts passieren würde, ich habe ihm vertraut.
Es passierte mir nicht nur nichts, sondern ich erbte auch das gesamte riesige Vermögen von George Osterman. Der als überlebender Bruder auch noch das Vermögen von John Roberts geerbt hatte. Das Erste, was ich tat, war eine Stiftung zu Gunsten der Opfer zu gründen, in die ein Großteil meiner Erbschaft floss. Sandra habe ich das Ferienhaus in St. James City vermacht, sowie die Hälfte des Hauses von J.R. in Captiva. Wir werden es abreißen lassen und dort wunderhübsche Apartments für naturverbundene Touristen bauen. Neuschwanstein habe ich gerade verkauft.
Sandra hat ihren Job in Deutschland aufgegeben, sie hat endlich ihre wahre Bestimmung gefunden: Sandra ist jetzt Schriftstellerin.
Georges letzten Thriller „Romeo und Julia“ habe ich unter dem Titel „Bis zum letzten Atemzug“ herausgegeben. Natürlich habe ich die Namen geändert und Sandra hat den Prolog und den Epilog umgeschrieben. „Bis zum letzten Atemzug“ steht aktuell auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste, meine Biografie „Julias Geschichte“ erscheint im nächsten Frühjahr. Sandra hat sie geschrieben. Ein Verlag hat ihr dafür einen so hohen Vorschuss gezahlt, dass sie einfach nicht widerstehen konnte. Danach wird
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