Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
verlegen.
Nikolai nickte ihr noch einmal kurz zu, drehte sich um und ging nach draußen. Er lief um das Delphinarium herum, bis er an einem Zaun stand, an dem ein Schild mit »Pater-David-Hirsch« angebracht worden war. Ohne sich um den majestätischen Geweihträger dahinter zu kümmern, holte er sein Handy heraus und wählte die Nummer.
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»Fränkischer Tag«/19.7.1974/Rubrik »Von der Polizei notiert«
Von der Leitung des Bischöflichen Knabenseminars im Ottonianum wurden der Polizei zwei Knaben als vermisst gemeldet. Es handelt sich dabei um die minderjährigen Jungen Clemens Martin und seinen Freund Peter Nickles, welche nach dem Ausscheiden aus dem Seminar in der letzten Woche nicht bei ihren Erziehungsberechtigten angekommen sind. Die Bamberger Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Die Knaben waren zuletzt wie folgt gekleidet …
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Dr. Max Newman mühte sich länger als sonst mit seinem Radiowecker ab. Entweder stellte er sich heute besonders blöd an, oder das Ding war endgültig hinüber. »… Nachrichten aus Bayern …«, vermeldete B 5 aktuell gerade, als sein Handy klingelte. Dieser Tag wollte offensichtlich nicht, dass er ihn verschlief. Seufzend stellte er den quäkenden Radiokubus auf das Nachtkästchen und drückte die Annahmetaste seines Handys.
»Dr. Newman im Schlaf, was gibt’s?«, gab er mürrisch zum Besten.
»Hallo, Dr. Newman, hier ist Dr. Rasputin vom Delphinarium in Kiew. Ich müsste Sie dringend sprechen.«
Max Newman horchte auf. Rasputin? Aus Kiew? Noch nie gehört. Außerdem besaß Kiew kein Delphinarium, soweit er informiert war.
»Ach, wird in Kiew jetzt ein Delphinarium gebaut?«, fragte er im gleichen mürrischen Ton nach. Eigentlich hatte er jetzt keine Lust auf Fachsimpeleien. Vor allem nicht mit jemandem, den er nicht kannte. Konnten diese Wissenschaftlerkollegen denn keine Termine machen? Allerdings musste er sich eingestehen, dass auch er nicht der Beste in solchen Sachen war.
»Äh, genau, wir haben den Bau gerade fertiggestellt. Nächste Woche lassen wir das Wasser einlaufen. Ich würde gerne bei Ihnen vorbeikommen, Dr. Newman, es wird auch nicht lange dauern. Mein Flugzeug nach Kiew geht schon in drei Stunden vom Flughafen in Nürnberg.«
Newman ließ sich erweichen. Hauptsache, es würde nicht lange dauern. Aber wenn sein Flieger in drei Stunden abhob, hatte das Gespräch ja schon naturbedingte Grenzen.
»Also gut«, gab er nach. »Kommen Sie vorbei: Am Frauentorgraben 3, zweite Klingel von unten. Finden Sie das?«
»Natürlich, kein Problem. In dreißig Minuten bin ich bei Ihnen.« Nikolai legte auf und schaute zufrieden auf die Uhr. In zwei Stunden würde der Job erledigt sein und er auf dem Weg nach Wien. Zügig lenkte er seine Schritte Richtung Ausgang.
*
Haderlein und Lagerfeld standen am Hintereingang der Gerichtsmedizin in Erlangen. Sie hatten am Bohlenplatz geparkt, der inmitten zahlreicher anderer medizinischer Teilbereiche lag. Auch die Chirurgie und die Frauenklinik waren in der Nähe. Hier war am deutlichsten zu spüren, dass Erlangen Medizinerstadt war.
Sie mussten nicht lange warten, bis Prof. Dr. Siebenstädter herbeieilte, um sie persönlich zu begrüßen. Man konnte ihm schon am Gesicht ablesen, dass ihm dieses Treffen einen ganz besonderen Genuss bereitete. Die beiden Kommissare aus Bamberg sahen dem Gespräch eher mit gemischten Gefühlen entgegen, um es mal optimistisch zu formulieren.
»Willkommen, meine Herren, in der Welt der geöffneten Leiber«, begrüßte er Haderlein und Lagerfeld und gab beiden euphorisch die Hand.
Siebenstädter war ein typischer Emporkömmling vom Land. Tatsächlich war er gelernter Metzger und hatte sich auf dem zweiten Bildungsweg bis zu diesem Posten durchgebissen. Seine Arroganz und Durchsetzungsfreudigkeit waren weithin bekannt – seine Komplexe, die er wegen seiner ländlichen Herkunft züchtete, ebenfalls. Dafür war er schon während seiner Zeit in Heidelberg bekannt gewesen, bevor man ihn nach Erlangen weggelobt hatte. Prof. Dr. Siebenstädter konnte auch mit keinen Freunden im engeren Sinne aufwarten. Er hatte nur sein Hobby, die Jägerei im Bayerischen Wald, wo er vor Kurzem eine Jagd gepachtet hatte. Wann er nur Zeit fand, ging er in seiner Freizeit dort seiner waidmännischen Leidenschaft nach. Aber jetzt musste er erst mal diesen Landeierkommissaren zeigen, wozu die moderne, städtische Gerichtsmedizin imstande war, und zwar besonders dann, wenn sie von ihm geleitet wurde.
Haderlein und
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