Das Alabastergrab
Max Newman zurück in seine Wohnung und spähte
vorsichtig aus dem Fenster. Im selben Moment drangen von unten das laute Plopp
einer Kugel und das hässliche Splittern eines alten eichenen Fensterrahmens an
sein Ohr.
Reflexartig zuckte er zurück und knallte mit dem Rücken gegen die
Tür seines Kleiderschrankes. Sein Manöver hatte offensichtlich nur kurz
gewirkt. Ihm musste jetzt etwas einfallen, und zwar flott. Er rannte aus seiner
Wohnung und wollte die Treppe hinunterstürzen, als er hörte, wie von unten
jemand heraufgerannt kam. Starr vor Schreck drückte er sich an die Wand des Treppenhauses.
Wie eine Maus saß er in der Falle.
Nikolai stürmte die Treppe hinauf. Mit geschultem Blick sondierte er
die Lage. Rechts befand sich die zweite Wohnungstür auf diesem Stockwerk,
daneben führte die Treppe weiter nach oben in den zweiten und dritten Stock. Er
hielt inne und horchte konzentriert. Kein Laufen, kein Atmen und auch sonst
kein Geräusch war zu hören. Mit kurzen, schnellen Schritten überprüfte er die
offene Wohnung von Newman und versicherte sich, dass sein Objekt sich nicht
versteckt hatte. Dann klopfte er laut an die Wohnungstür gegenüber.
»Ja doch, Moment«, antwortete ihm eine weibliche Stimme. Dann
öffnete sich die Tür, und eine überschminkte Frau mit dicken schwarzen Haaren
stand vor ihm.
»He, Süßer«, begrüßte sie ihn mit mitleidigem Lächeln. »Stell dich
bitte hinten an, ja? Ich hab die nächste Stunde noch zu tun. Also sieh zu, dass
du …« Bevor sie noch weiterreden konnte, packte Nikolai sie auch schon mit der
linken Hand an der Kehle, sodass sie keinen Ton mehr herausbrachte, und drückte
sie brutal gegen die Wand. Den rechten Zeigefinger nahm er vom Abzug der Waffe
und legte ihn ihr bedeutungsvoll auf den Mund.
»Schsch, keinen Ton, kurwa . Bleib hier und rühr dich nicht
vom Fleck.«
Mit weit aufgerissenen Augen fixierte die Prostituierte die Waffe
und nickte lautlos. Nikolai ließ von ihr ab und arbeitete sich leise durch die
Wohnung vor, bis er vor dem letzten Raum, dem Schlafzimmer, stand.
Von drinnen hörte er Geräusche. Mit einem Ruck öffnete er die Tür
und hechtete mit erhobener Waffe in den Raum. Mit einem lauten Schrei des
Entsetzens zogen zwei junge Frauen die Bettdecke über ihre nackten Körper.
Offensichtlich hatte er sie beim lustvollen Liebesspiel überrascht. Er öffnete
den Schrank neben dem Bett, doch darin befanden sich nur Lederklamotten,
Eisenringe mit Sporen und ähnliches Dominaspielzeug. Ohne sich um die
schreienden Nutten zu kümmern, ging Nikolai aus dem Schlafzimmer hinaus und an
der verängstigten Herbergsmutter vorbei und verließ die Wohnung.
Im Treppenhaus überlegte er. Nach unten konnte Newman nicht
entkommen sein, in seiner Wohnung war er nicht und auch nicht in dem privaten
Puff gegenüber. Allerdings hatte er vergessen, unter dem Bett der
Prostituierten nachzusehen, wie ihm jetzt einfiel. Es war mit einer schweren roten
Samttagesdecke bedeckt gewesen, die an den Seiten bis zum Boden hinunterhing.
Nikolai wollte gerade wieder zurück in die Wohnung der Vertreterin des
horizontalen Gewerbes, als er einen Stock höher ein Geräusch hörte. Ganz
eindeutig eine zufallende Stahltür.
Er ließ die Tagesdecke Tagesdecke sein und spurtete in den zweiten
Stock. Hier gab es nur zwei Wohnungstüren, beide aus Holz, aber die Treppe
führte noch weiter. Als er in der letzten Etage angekommen war, stand er einer
schmalen, alten, verrosteten Eisentür gegenüber. Sie ließ sich mit einem
kreischenden Geräusch öffnen, und Nikolai betrat eine Dachterrasse. Aus den
Augenwinkeln sah er gerade noch, wie hinter einem der großen Kamine eine
Gestalt verschwand.
In großem Bogen, die Waffe im Anschlag, umrundete er den Abzug und
richtete die Waffe auf die Person, die vor ihm stand. Es war eine Frau
mittleren Alters. Sie war mindestens genauso überschminkt wie die Madame aus
dem ersten Stock. Die Menge des Make-ups, das sie im Gesicht trug, stand im
diametralen Gegensatz zum dürftigen Kleidungsoutfit, das sich nur aufs
Allernötigste beschränkte. In der Hand hielt sie eine Zigarette und starrte ihn
mit einem Ausdruck grenzenloser Verblüffung an.
»Aber ich hab doch gesagt, dass ich zum Rauchen aufs Dach gehe!«,
verteidigte sie sich schüchtern.
Noch ehe Nikolai etwas erwidern konnte, hörte man von der Straße,
wie ein Tor polternd aufgezogen wurde. Der Killer stürzte zur betonierten
Umrandung der Terrasse, blickte nach unten und sah gerade
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