Das Alabastergrab
Blase zu entleeren.
Beim Angeln gab es eine eiserne Regel: Wenn nichts mehr ging, wenn
die Fische schmollten und lieber unter ihresgleichen bleiben wollten, hieß es,
erst einmal einen Strahl in die Ecke zu stellen. Das half immer. Deswegen
konnten Frauen auch so schlecht angeln, wurde in Anglerkreisen gerne gemunkelt,
schließlich würde ihnen dieser alles entscheidende Moment der Meditation und
des Neuanfangs auf immer und ewig versagt bleiben. Festzementierte
Anglerwahrheit.
Wo war bloß das nächste Gebüsch? Edwin Rast drehte seinen Kopf und
spürte sogleich harten Beton an seiner Backe. Merkwürdig, dachte er. Aber
vielleicht konnte man sich ja auch gleich an Ort und Stelle erleichtern?
Während er die Möglichkeit noch reichlich benommen überdachte, schaute er nach
unten. Prompt berührte seine Nase das Wasser. Verblüfft schreckte er wieder
hoch. Wieso Wasser? Er stand doch. Er versuchte den Arm zu heben. Ging nicht.
Das Bein? Fehlanzeige. Außerdem war alles an ihm nass und ihm arschkalt. Edwin
Rast konzentrierte sich. Langsam, aber sicher vermutete er eine fremdbestimmte
Einschränkung seiner momentanen Lebensqualität. Die Schlussfolgerung lag vor
allem deshalb nahe, weil sein Kinn das Wasser berührte, Arme wie Beine
gefesselt waren und sein Schädel dröhnte, als hätte ein islamistischer
Selbstmordattentäter in seinem Kleinhirn einen Sprengstoffgürtel gezündet.
Schräg gegenüber konnte er das andere Ufer, die Brückenpfeiler und die
Sandsteinumrandung einer Friedhofsmauer erkennen. Schlagartig war er hellwach.
Er wusste, wo er war.
*
In den letzten Jahren waren am Obermain immer häufiger Kajak- und
Kanufahrer gesichtet worden. Genauso wie Angler und sonstige Ufertouristen. Als
der eine oder andere dann auch noch auf die Idee gekommen war, Boote gewerblich
zu vermieten, gab es die ersten Reibereien mit der angelnden Zunft und den Naturschützern.
Die einen zauberten den vom Aussterben bedrohten grau karierten Kieselpfeifer
aus dem besagten Hut, die anderen wollten Biber und Quastenflosser wieder
ansiedeln. Da der gleiche Konflikt an diversen anderen deutschen Flüssen nicht
selten mit größeren Differenzen vor Gericht oder sonst wo zu enden drohte,
beschloss man am Main, einen runden Tisch einzuberufen, um mit sämtlichen
beteiligten Interessengruppen eine freiwillige Selbstvereinbarung zu entwerfen.
Diese sah letztendlich vor, das Befahren durch Boote zeitlich einzuschränken
und auch einen Mindestpegel des Wasserstandes festzulegen, damit bei
Niedrigwasser nicht mehr eingebootet werden durfte. Zu diesem Zweck wurden
große, runde Betonpfeiler an den Einstiegsstellen in den Main gerammt, die oben
grün und unten rot gestrichen waren. Tauchte die rote Farbe am Pfeiler auf,
hatte jedem Bootsfahrer klar zu sein, dass das Ende der Saison gekommen war.
Zumindest bis zum nächsten Niederschlag. So stand es nun schwarz auf weiß
geschrieben, und jedem einzelnen Punkt waren harte Verhandlungen der
versammelten Outdoor-Lobbyisten vorangegangen. Aber die Vereinbarung war
ausgearbeitet und wurde auch tatsächlich mit mehr oder weniger Überzeugung von
den jeweiligen Vertretern in einem freiwilligen Akt unterzeichnet. Selbst der
bayerische Umweltminister ließ sich schließlich zu einer werbeträchtigen
Bootsfahrt auf dem neu geschaffenen Bootswanderweg auf dem Obermain hinreißen.
Trotzdem gab es in den Hinterzimmern noch immer Reibereien mit den
Extremisten der jeweiligen Interessenverbände. Die militanten Verfechter
absoluter Standpunkte, die durch nichts von ihren am Stammtisch generierten
Meinungen abzubringen waren, diskutierten lauthals weiter. Doch Edwin Rast war
kein Stammtisch-Gebildeter, er war der Agitator. Er hatte keine Meinung, er
machte sie. An den Anglertischen, an denen er auftauchte, waren seine Worte für
die meisten Gesetz. Unverrückbare Dogmen. Edwin Rast hatte das Abkommen bis
aufs Blut bekämpft. Bootsfahrer waren für ihn das Ungeziefer der Gewässer, eine
vom Antlitz der Erde zu tilgende Fehlentwicklung der Natur. Jeder Kompromiss
war ihm in der Angelegenheit zuwider. Er war so lange von Pontius zu Pilatus,
von Behörde zu Anwalt und Landrat gerannt, bis er bei jedem maßgeblichen
Entscheidungsträger Hausverbot erhalten hatte. Aber trotz aller Steine, die ihm
in den Weg gelegt wurden, gab Edwin Rast nicht auf und bohrte weiter im
subversiven Angleruntergrund. Nur in letzter Zeit war es etwas stiller um ihn
geworden.
*
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