Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
während des Zweiten Weltkriegs hier in Freiburg kennen gelernt. Er war Patient in einem großen Reservelazarett nördlich der Stadt, in dem ich als Krankenschwester arbeitete. Ich habe ihn seither nie wieder gesehen – bis heute. Sie waren Zeugin unserer ersten Begegnung nach fast dreißig Jahren. Ihr Mann sagte, es handele sich um einen Zufall. Was halten Sie davon?«
»Keine Ahnung. Ich habe schon seit Tagen nicht mehr mit Bryan gesprochen. Er weiß nicht einmal, dass ich hier bin. Ich weiß absolut gar nichts, und dass er während des Zweiten Weltkriegs in einem deutschen Lazarett gelegen haben soll, ist mir völlig neu. Ich weiß aber, dass er einige Zeit im Krankenhaus war, als er nach England zurückkehrte. Und davor war er fast ein Jahr lang verschwunden.«
»Dann war er genau in diesem Jahr hier in Freiburg.«
Laureen gewann abrupt Einblick in einen Teil von Bryans Vergangenheit, auf den sie nicht vorbereitet war. Auch wenn sie es kaum glauben konnte, war sie sich sicher, dass die zierliche Frau sie nicht anlog. »Die Angst und die Wahrheit sind Gefährten – genau wie die Lüge und der Übermut«, hatte ihr Vater immer gesagt. Und hinter Petra Wagners ruhiger Fassade schien pure Angst zu lauern.
Sie mussten so schnell wie möglich Vertrauen zueinander fassen.
»Gut. Ich glaube Ihnen, obwohl das in meinen Ohren alles mehr als seltsam klingt.« Laureen trank noch einen Schluck von der braunen Plörre. »Ich heiße Laureen Underwood Scott.Sie dürfen mich gerne Laureen nennen, wenn Sie möchten«, sagte sie. »Mein Mann und ich sind seit 1947 verheiratet. In knapp zwei Monaten haben wir Silberhochzeit. Wir leben in Canterbury, der Heimatstadt meines Mannes. Er hat Medizin studiert und arbeitet jetzt in der Pharmaindustrie. Wir haben eine Tochter und sind das, was man ungewöhnlich privilegiert nennt. Während unserer gesamten Ehe ist mein Mann kein einziges Mal nach Deutschland gereist – bis vor vierzehn Tagen. Und ich hatte bis vorgestern mein Lebtag noch nicht von dieser Stadt gehört. Entschuldigen Sie meine Ignoranz.« Die beiden Frauen sahen einander in die Augen und Laureen flehte: »Bitte, Petra Wagner, bitte sagen Sie mir, wo mein Mann ist!«
Was Petra Wagner betraf, hätte die Engländerin genauso gut Hebräisch sprechen können. Worte waren ja doch nur Schall und Rauch. Statt der hochgewachsenen Frau zuzuhören, konzentrierte sie sich vollkommen darauf, sie mit Argusaugen zu beobachten. Alles hing davon ab, ob sie ihrem Gegenüber vertrauen konnte oder nicht.
Sie musste in erster Linie an Gerhart denken. Solange sie nichts unternahm, setzte sie auch nichts aufs Spiel. Gerhart wäre wie immer in Sicherheit.
Selbstverständlich hoffte sie, dass sich Stich, Kröner und Lankau auf dem Schlossberg zu guter Letzt mit Arno von der Leyen geeinigt hatten. Aber ihr war unwohl, und sie fühlte sich hilflos und alles andere als sicher. Wenn es nun nicht so gelaufen war, wie es sollte, und wenn nun diese Frau ihr gegenüber – ganz gleich, was auf dem Schlossberg passiert war – böse Absichten hegte? Wie sah es dann für sie aus? Und wie sah es für Gerhart aus?
Diese Frau konnte unmöglich ein Profi sein. Vermutlich log sie auch nicht, wenn sie behauptete, Arno von der Leyen sei ihr Mann.
»Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«, erkundigte Petra sich seltsam kurzatmig. Verwundert sah Laureen sie an und nickte. »Sie müssen immer ganz schnell antworten. Betrachten Sie es als eine Art Glaubwürdigkeitstest. Wie heißt Ihre Tochter?«
»Ann Lesley Underwood Scott.«
»A-N-N-E?«
»Nein, ohne E.«
»Wann ist sie geboren?«
»Am 16. Juni 1948.«
»Was für ein Wochentag war das?«
»Ein Montag.«
»Wieso wissen Sie das noch?«
»Einfach so.«
»Was ist an dem Tag sonst noch passiert?«
»Mein Mann hat geweint.«
»Sonst noch etwas?«
»Ich habe Muffins mit Marmelade gegessen.«
»Sie erinnern sich aber an seltsame Sachen.«
Laureen schüttelte den Kopf. »Haben Sie Kinder?«
»Nein.« Petra hasste diese Frage fast noch mehr als die peinlichen Annäherungsversuche, denen sie sich hin und wieder ausgesetzt sah, wenn sie nach dem Einkaufen allein im Café Palmera saß.
»Wenn Sie welche hätten, wüssten Sie, dass das nicht seltsam ist. Sind Sie jetzt zufrieden?«
»Nein. Erst müssen Sie mir sagen, was Ihr Mann von Gerhart Peuckert will.«
»Ich schwöre es Ihnen, ich weiß es nicht. Das müssten Sie doch besser wissen als ich.« Laureen kniff die Lippen
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