Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
zusammen, bis aus den Falten in ihren Mundwinkeln Risse in der Maske wurden.
»Ich weiß es auch nicht.«
»Hören Sie, Petra Wagner!« Laureen ergriff ihre Hand.»Bitte erzählen Sie mir, was Sie wissen. Sie können mir vertrauen.«
Laureen blieb skeptisch. Nur langsam konnte sie die vielen Informationen verarbeiten. Die Vergangenheit ihres Mannes war die eines ihr fremden Menschen. Nichts, absolut gar nichts hatte sie davon geahnt.
Petra Wagner war eine gute Erzählerin. Nach und nach nahmen das Lazarett, das Leben dort und die Krankenzimmer Gestalt an. »Das ist ja schrecklich«, brach es hin und wieder aus Laureen hervor. »Ist das wirklich wahr?«, flüsterte sie mehrfach, ohne eine Antwort zu erwarten.
Petra schilderte jene Monate im Reservelazarett in den Bergen als eine Zeit der Angst und Unterdrückung. Als eine Welt systematischer Fehlbehandlungen, endloser Einsamkeit und stillen Terrors. Drei Männer hatten alle anderen beherrscht und kontrolliert.
Eines Tages waren Arno von der Leyen und zwei weitere Männer auf einmal verschwunden gewesen.
»Und Sie sagen, dass mein Mann und dieser Gerhart Peuckert im Krankenhaus überhaupt nichts miteinander zu tun hatten?«
»Ganz genau.« Petra sah ratlos aus. »Gerhart wandte sogar stets den Kopf ab, wenn Arno von der Leyen in seiner Nähe war.«
»Und was ist mit diesem Gerhart Peuckert passiert?«
Kaum hatte Laureen die Frage ausgesprochen, zog Petra ihre Hand zurück. Ihr war übel. Mit einem Mal wurde sie totenbleich und Tränen liefen ihr über die Wangen. Wortlos nahm sie das Taschentuch, das Laureen ihr anbot.
An diesem Nachmittag wurden für Petra Minuten manchmal zu Stunden und dann wieder zogen sich Stunden zu Sekundenbruchteilen zusammen. An diesem Nachmittag öffnete sie sich, zum ersten Mal nach all der Zeit, und sie wollte ihreEinsamkeit und ihr Misstrauen hinausschreien. Dann versuchte sie zu lächeln. Sie putzte sich die Nase und lachte erleichtert und verlegen auf.
»Ich kann Ihnen doch vertrauen, oder?«
»Das können Sie«, entgegnete Laureen und ergriff wieder ihre Hand. »Abgesehen davon, dass ich keine Ahnung habe, ob meine Tochter wirklich an einem Montag geboren wurde.« Sie lachte entschuldigend. »Nun erzählen Sie schon Ihre Geschichte! Ich glaube, das wird uns beiden guttun.«
Petra hatte sich in Gerhart Peuckert verliebt. Sie hatte schreckliche Dinge über ihn gehört, liebte ihn aber trotzdem. Nachdem er und ein paar andere Patienten nach Ensen bei Porz in der Nähe von Köln gebracht worden waren, hatte sich Gerharts Zustand nur unbedeutend verbessert. Es hatte Petra einiges an Überredungskunst und Bestechungsgeld gekostet, ihn dorthin begleiten zu dürfen.
Als die Deutschen kapitulierten, war Gerhart noch immer sehr, sehr schwach. Manchmal war er tagelang bewusstlos. Man hatte ihn gegen Ende des Krieges eigentlich gut behandelt, aber das machte alles andere nicht wett: weder die harten Monate im Freiburger Lazarett mit den Elektroschockbehandlungen noch den alles andere als zimperlichen Umgang der Sicherheitsoffiziere und der anderen Patienten mit ihm. Lange war er dem Tod näher gewesen als dem Leben.
Außerdem zeigte er Symptome wie bei einer allergischen Schockreaktion. Aber erstens war niemand dort sachkundig genug, diese Symptome ernst zu nehmen, und zweitens hätte ohnehin niemand Zeit gehabt, sie genauer zu untersuchen.
Das Schlimmste aber war, dass nach Kriegsende von einem Tag zum anderen dieser Patient für die Ärzte uninteressant zu sein schien. Von einem Tag zum anderen gehörte er einer Vergangenheit an, über die am besten nie wieder geredet wurde. Andere Patienten, auf denen nicht der Fluch des Hakenkreuzes lag, wurden jetzt vorgezogen. Einzig und allein Petra kümmertesich noch gewissenhaft um Gerhart Peuckert. Aber sie konnte ja nicht wissen, was in seinem Fall zu tun war, dazu fehlte ihr die Sachkenntnis. Er bekam die Tabletten, die er immer bekommen hatte, und ansonsten ließ man ihn einfach tagaus, tagein schlafen.
Und dabei wäre es sicher geblieben, wenn nicht eines Tages zwei dieser Männer aus dem Alphabethaus aufgetaucht wären.
An dieser Stelle in Petras Schilderung begriff Laureen, dass Petra allen Anlass zur Angst hatte. Die beiden Männer waren gekommen, um ihren Geliebten umzubringen. Der eine – ein kräftiger Mann namens Lankau – war einer der beiden Patienten gewesen, die damals zusammen mit Laureens Mann getürmt waren.
Die zwei Männer waren mit Arztkitteln
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