Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
ausgerechnet nach dem einzigen Menschen gefragt, für den sie ihr Leben geben würde. Sie hatte das sofort als Bedrohung empfunden und entsprechend reagiert. Petra seufzte und packte ihr Blutdruckmessgerät zusammen. Sie nickte dem Patienten zu und sah dann aus dem Fenster.
Der Schlossberg hatte den ganzen Tag in der strahlenden Sonne gelegen. Was genau dort oben mit Arno von der Leyen passieren sollte, wusste sie nicht. Aber sie konnte es sich vorstellen. Wenn Hermann Müller sein wahres Ich zeigte, wollte sie ihn nur ungern zum Feind haben. Jeder, der sich mit Gerhart Peuckert treffen wollte, riskierte, Peter Stichs Dämon zu erwecken.
Bei dem Gedanken daran wurde ihr schlecht. Die Konsequenz dessen, was sie heute getan hatte, bedeutete, dass sie von jetzt an um keinen Deut besser war als Kröner, Lankau und Stich.
Die kleine Dot Vanderleen, die seit dem Verkauf des Geschäfts ihres verstorbenen Mannes in der Salzstraße wohnte, machte Petra auf ihre Verfolgerin aufmerksam. »Da«, sagte sie und zeigte aus dem Fenster zur anderen Straßenseite. Die hochgewachsene Frau wirkte erleichtert, wie sie da auf einem Bein stand und sich den anderen Fuß massierte. »Die Ärmste«, bemitleidete Dot Vanderleen die Frau. »Hat wohl neue Schuhe an.«
Von da an sah Petra die Frau auf ihrer Runde immer wieder. Ganz gleich, bei welchem Patienten sie kurz aus dem Fenster sah – jedes Mal stand die Unbekannte draußen und knetete sich die Füße.
Normalerweise unterbrach Petra ihre Samstagsschicht für ein, zwei Stunden, um Gerhart zu besuchen. An diesen späten Samstagnachmittagen kamen sie einander am nächsten. JedenSamstag liebten sie sich mit ihren Blicken und nur für wenige Sekunden. Doch für diese Sekunden lebte sie.
Um drei Uhr besuchte Petra Herrn Frank, einen alten, wundgelegenen Grossisten, nach ihrem Plan der letzte Patient vor der Pause.
Doch statt wie üblich mit der Straßenbahn zum Sanatorium zu fahren, überquerte sie den Kartoffelmarkt in der entgegengesetzten Richtung. Auf der Höhe einer größeren Zuschauerschar, die sich vor einer Gruppe Straßenschauspieler auf das Kopfsteinpflaster gesetzt hatte, beschleunigte Petra ihre Schritte und hängte ihre Verfolgerin ab.
Beim Taxistand am Ende der Weberstraße setzte sich Petra in den ersten freien Wagen. »Kleinen Moment noch«, informierte der Fahrer des nächsten Wagens sie. »Fritz ist eben für kleine Jungs, er kommt gleich.«
Die hochgewachsene Frau, die Petra verfolgt hatte, kam aus der Wasserstraße gestürzt. Petra lehnte sich im Taxi zurück, damit die andere sie nicht sehen konnte. Die Frau wusste offenkundig nicht, was sie jetzt tun sollte. Kopflos ging sie ein paar Schritte die Weberstraße hinauf und kehrte dann wieder um. Ihre Frisur passte nicht mehr zu ihrer sonst eher eleganten Erscheinung. Sie lehnte sich gegen eine Hauswand, beugte sich vornüber und stützte die Hände auf die Knie.
Petra kannte das Gefühl, wusste aber auch, dass diese Dehnübung nicht gegen schmerzende Füße half.
Die Frau verfolgte sie ohne jeden Zweifel, aber sie war alles andere als ein Profi. Sie sah sich mehrfach um, bevor sie die große Plastiktüte neben sich auf dem Boden abstellte und so tief seufzte, dass Petra es fast bis ins Taxi hören konnte.
»Da kommt er«, rief der Taxifahrer von eben und klopfte sachte an das Seitenfenster. In dem Moment entdeckte die Frau Petra. Erst sah sie ihr direkt in die Augen, dann ließ sie den Blick zum Taxi dahinter und wieder zurück wandern. Sie war sich darüber im Klaren, dass Petra sie bemerkt hatte.
»Grüß Gott, junge Frau. Wie ich sehe, haben Sie es sich schon bequem gemacht. Wohin soll’s denn gehen?« Der etwas korpulente Mann legte den Arm auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes und drehte sich mühsam zu seinem Fahrgast um. Petra hatte gar nicht recht mitbekommen, dass er eingestiegen war. Sie schlug ihre Mappe auf und nahm das Skalpell an sich, das sie stets in der Mitte der Mappe bei sich trug. Es hatte gerade eine frische Klinge bekommen. Damit fühlte sie sich ausreichend gerüstet, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das sich ihr heute eröffnen wollte.
Die Frau machte ein trauriges Gesicht. Petra stieg aus dem Taxi und marschierte auf sie zu. »Man wird doch wohl noch mal pinkeln gehen dürfen!«, rief ihr der Taxifahrer hinterher. »Auch ein Taxifahrer braucht mal eine Pause! Sind Sie schon mal einen ganzen Tag ohne Pause Auto gefahren?« Er hatte den Kopf zum Fenster
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