Das Amulett der Pilgerin - Roman
und darauf bestanden, auch für Vivianas Unterbringung zu bezahlen. Sein Maultier stand im Hof und wartete, doch Trudy hielt sie plötzlich zurück.
»Einen Moment, Miss, ich habe noch etwas.«
Die Wirtin löste das Band des Beutels, der von ihrem Gürtel hing, und nahm etwas heraus. Sie drückte es Viviana in die Hand.
»Hier, das hatten Sie um den Hals. Ich habe es an mich genommen, als ich Sie versorgt habe.«
Viviana betrachtete das kleine Medaillon, das an einer dünnen Silberkette hing.
»Ich habe genau nachgesehen, es ist leer, und es gibt keine Zeichen darauf, die ein Hinweis hätten sein können«, sagte die Wirtin schnell, um sich zu verteidigen. Es war deutlich, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte. »Ich dachte, es wäre nur gerecht, für die ganze Arbeit und das Essen und alles.«
»Es ist gut. Danke, dass Sie es mir gegeben haben.«
»War das das Einzige, was Miss Viviana bei sich hatte, oder gibt es da noch andere Dinge?« Der Spanier war verärgert.
»Das war das Einzige, das schwöre ich bei dem Leben meiner Kinder.«
Viviana legte die Kette um ihren Hals und zog Rinaldo am Ärmel.
»Lass uns aufbrechen, Rinaldo.«
Das große, kräftige Maultier trug ihre wenigen Habseligkeiten, während sie beide zu Fuß gingen. Schweigend hatten sie bereits ein ganzes Stück des Weges zurückgelegt, als Viviana unvermittelt sagte: »Was ist, wenn ich mich einfach nie mehr erinnern kann?«
»Es wird wiederkommen, bestimmt.«
»Ich fühle mich so losgelöst von allem. Jeder Mensch hat Familie und weiß, wohin er gehört. Nur ich nicht.«
»Ich gehöre auch nirgendwo hin.«
»Aber du weißt, wo du herkommst.«
»Ja, leider.«
Viviana blickte Rinaldo an. Er hatte ihr erzählt, dass er einen Eid geschworen hatte, auf Pilgerschaft zu gehen, um eine Sünde wiedergutzumachen. Viviana konnte sich kaum vorstellen, dass ein so sanfter, freundlicher Mensch wie Rinaldo Sünden begangen haben sollte, die nur durch eine entbehrungsreiche Pilgerfahrt nach England gesühnt werden konnten. Aber sie wusste nur sehr wenig über ihn. Er stapfte neben ihr in der Vormittagssonne, und Schweiß strömte über sein Gesicht. Nein, sie konnte nicht glauben, dass er einer anderen Kreatur etwas anhaben könnte. Aber es gab auch schlimme Sünden, die man ganz für sich allein begehen konnte. Schweigend gingen sie weiter. Eine Unterhaltung zwischen zwei Menschen, von denen der eine kein Gedächtnis hatte und der andere nicht über seine Vergangenheit reden wollte, war gar nicht so einfach.
Am Abend hatten sie bei einem Bauern Unterkunft gefunden, der sie in der Scheune schlafen ließ. Seine Frau hatte mehr über das ungleiche Paar wissen wollen, da sie aber nur Kornisch und kaum Englisch sprach, hatte sie schließlich ihr Verhör abgebrochen.
»Was wollen wir den Leuten erzählen, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen?«
Rinaldo, der Stroh zu einer Lagerstatt zusammenschob, hielt inne.
»Ich glaube, wir sollten mit der Wahrheit vorsichtig sein, Viviana. Wenn man niemanden auf der Welt hat, ist man ein leichtes Opfer.«
»Aber wir haben doch uns.«
Er blickte sie an und erwiderte Vivianas Lächeln. Ja, es schien wirklich, als hätte Gott sie zusammengeführt, damit sie sich gegenseitig helfen konnten.
»Wir sollten verwandt sein. Du könntest meine Schwester sein.«
»Wir sehen uns nicht sehr ähnlich«, gab Viviana zu bedenken und blickte von ihrem zierlichen Körper zu Rinaldos hünenhafter Gestalt.
»Aber wir sind beide dunkel und haben einen fremdländischen Akzent. Das dürfte schon reichen. Ich glaube nicht, dass die Leute einen spanischen Akzent von einem französischen Akzent unterscheiden können.«
»Nein, das glaube ich auch nicht.«
»Wo kommen wir her?« Rinaldo schien offenbar zunehmend Gefallen daran zu finden, sich eine Geschichte zurechtzulegen.
»Eine Grenzregion wäre gut, vielleicht Aragonien?« Viviana stutzte. »Ich weiß sehr viel über diese Region, stelle ich gerade fest.«
»Wahrscheinlich kommst du da her.«
»Vielleicht.« Aber ihre Stimme klang unsicher. Sie nahm die Halskette ab und hielt das Medaillon in die untergehende Sonne. Viviana hatte es bereits mehrmals genauestens untersucht, aber es gab absolut keine Hinweise. Es war aus Silber, rechteckig, ohne Verzierungen und leider leer. Was sich auch immer in dem Schmuckstück befunden hatte, lag jetzt unwiederbringlich auf dem Grund des Meeres. Rinaldo machte es sich auf seinem improvisierten Bett bequem und streckte sich
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