Das Amulett der Pilgerin - Roman
glotzte Rinaldo aus hervorstehenden, hellen Augen neugierig an. Eines seiner Augen schien immer ausbrechen zu wollen, als hätte es keine Lust, die Dinge zu betrachten, die sein Besitzer ansehen wollte.
»Und Sie wollen auch eine Kammer?«
»Ja, für mich und meine Schwester«, sagte Rinaldo würdevoll mit seiner hohen Stimme.
»Heute noch, wenn es recht ist.« Julian war das unverschämte Starren des Wirtes unangenehm.
»Der muss gerade glotzen«, flüsterte Viviana.
»Immerhin hat eines seiner Augen mehr Benehmen als das andere«, erwiderte Julian, und Viviana unterdrückte ein Kichern.
Kurze Zeit später folgten sie der Tochter des Wirtes in den Hof, dem sich der Schlafsaal angliederte. Ihre Betten befanden sich am Ende des Raumes. Julian scheuchte ein Huhn von seinem Strohlager. Als er sich umdrehte, sah er sich Viviana gegenüber, die ebenfalls gerade ein Federvieh durch die offene Fensterluke bugsierte.
»Meines hat sogar ein Ei gelegt!« Julian hielt triumphierend das Ei hoch, das unter seinem Huhn zum Vorschein gekommen war. Sie blickte ihn entrüstet an und sagte dann ernst:
»Ich will mein Geld zurück!«
Julian lachte, und sie lachte auch.
• 6 •
D ie beiden waren ein sehr merkwürdiges Paar, dachte Julian, als er zurück zu seiner ursprünglichen Bleibe ging, um seine Sachen und sein Pferd zu holen. Ihm war der Gedanke gekommen, dass Rinaldo vielleicht etwas mit der Verschwörung zu tun haben könnte, über die in Westminster spekuliert wurde. Aber würde man tatsächlich einen so auffälligen Spion schicken? Oder absichtlich einen auffälligen? Das wäre dann aber ein glücklicher Zufall, der Julian den Gesuchten direkt in die Hände gespielt hätte. Glückliche Zufälle waren nicht unmöglich, aber sehr selten. Er war so in Gedanken vertieft, dass er nur noch durch einen großen Sprung zur Seite dem Inhalt eines Kübels ausweichen konnte, der aus dem ersten Stock eines Hauses auf die Straße gekippt wurde. Wie man freiwillig in einer überfüllten und verdreckten Stadt wohnen konnte, war Julian unbegreiflich. Er zog das Landleben in jedem Fall vor. Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort. Er musste herausfinden, was es mit diesem seltsamen Paar auf sich hatte. Sie wollten nach Saint Albans. Julian fiel der Knecht aus Reading ein, der dem Verwalter sein Pferd und das Silber gestohlen hatte. Ja, das wäre eine Idee!
Rinaldo hatte sich ein bisschen hingelegt, und Viviana saß auf einem Strohballen im Hof und sah den Hühnern zu. Ihre neue Bekanntschaft gefiel ihr. Er mochte um die dreißig sein, vielleicht jünger. Mittelgroß und schlank. Seine Haare waren dunkelblond, eigentlich war er gar nicht weiter bemerkenswert, wenn sie nicht das Aufblitzen seiner grünen Augen gesehen hätte. Es gefiel ihr, dass er Rinaldos Erscheinung und Stimme keine Bedeutung beimaß und ihn behandelte wie jeden anderen Mann. Die letzten Tage ihrer Reise hatten Viviana gezeigt, wie viel Voreingenommenheit und gemeinen Bemerkungen Rinaldo ausgesetzt war. Diese Pilgerfahrt war wahrlich ein Opfer für ihn. Was seine Vergangenheit anbetraf, blieb Rinaldo weiter schweigsam, aber er hatte ihr erzählt, dass er Sänger in Saragossa gewesen war und eine Vertrauensposition im Hause seines Herrn genossen hatte. Was war vorgefallen, dass Rinaldo sein gesichertes Leben hatte aufgeben müssen? Er sprach ohne Hass oder Bitterkeit über sein Zuhause, eher wie jemand, der gerne dorthin zurückkehren wollte, aber nicht konnte. Viviana beobachtete, wie eine Glucke mit ihren Küken über den Hof wanderte. Sie lächelte beim Anblick der kleinen gelben Federbälle, die eilig hinter ihrer Mutter herliefen. Es verging kein Tag und keine Stunde, in der sich Viviana nicht fragte, wer ihre Familie war. Hatte sie einen Mann, hatte sie Kinder? Müsste sie es nicht fühlen, wenn sie Mutter wäre? Konnte man seine eigenen Kinder vergessen? Viviana bemühte sich, hoffnungsvoll zu bleiben, früher oder später würde irgendein Ereignis ihr Gedächtnis wieder zum Leben erwecken. Das Geräusch der Pferdehufe ließ sie aufblicken. Es war Julian. Er ritt einen kräftig gebauten, dunklen Fuchs und schwang sich soeben aus dem Sattel. Nachdem er sein Bündel vom Sattel gelöst hatte, warf er die Zügel dem Stalljungen zu. Dann kam er zu ihr herüber.
»Miss della Rosa …« Er brach stirnrunzelnd ab und lächelte sie entschuldigend an.
»Es tut mir leid, ich konnte mir Ihren Nachnamen nicht merken.«
»Das macht doch nichts. Nennen Sie mich
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