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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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eine deutliche Zweiteilung: Peter hatte das Blond und die blauen Augen seiner Mutter, Anton das dunklere Haar, die braunen Augen und die nußfarbene Haut des Vaters, die um die Augen herum noch dunkler wurde. Er war in der ersten Klasse des Gymnasiums, brauchte jetzt aber ebenfalls nicht zur Schule zu gehen, da die Weihnachtsferien wegen des Kohlenmangels bis zum Ende der Frostperiode verlängert worden waren.
    Er hatte Hunger, aber er wußte, daß er erst wieder morgen früh eine Scheibe pappiges graues Brot mit Rübensirup bekommen würde. Am Nachmittag hatte er vor der Volksküche im Kindergarten eine Stunde lang Schlange gestanden. Erst als es schon dunkel wurde, war der von einem Polizisten mit geschultertem Gewehr bewachte Handwagen mit den Kesseln in die Straße eingebogen. Nachdem die Lebensmittelkarten gelocht worden waren, wurden ihm vier Kellen wäßrige Suppe in den mitgebrachten Topf geschöpft. Auf dem Heimweg über die Felder hatte er ein wenig von der warmen, säuerlichen Brühe gekostet. Zum Glück war jetzt gleich Schlafenszeit. In seinen Träumen war immer Frieden.
    Niemand sagte etwas. Auch von draußen war nichts zu hören. Der Krieg hatte ewig gedauert und würde ewig weitergehen. Kein Radio, kein Telefon, nichts. Die Flämmchen zischten, nur hin und wieder war ein leises Puffen zu hören.
    Anton hatte einen Schal um den Hals und die Füße in einem Fußsack, den seine Mutter aus einer alten Einkaufstasche genäht hatte, und las in Natur und Technik einen Artikel. Den gebundenen, beim Antiquar erstandenen Jahrgang 1938 hatte er zum Geburtstag bekommen. »Ein Brief an unsere Nachkommen«. Auf dem Foto schaute eine Gruppe wohlgenährter Amerikaner in Hemdsärmeln zu einer großen, glänzenden Kapsel hinauf, die die Form eines Torpedos hatte und senkrecht über ihren Köpfen hing. Sie sollte fünfzehn Meter tief in die Erde hinuntergelassen werden und durfte erst in fünftausend Jahren geöffnet werden von Nachfahren, die dann einen Eindruck von der Zivilisation zur Zeit der Weltausstellung in New York bekommen würden. In der Kapsel der überaus stabilen ›Cupaloy‹ befand sich ein feuerfester Glaszylinder, der Hunderte von Dingen enthielt: ein Mikroarchiv über den Stand der Wissenschaft, der Technik und der Künste in zehn Millionen Wörtern und Abbildungen, Zeitungen, Kataloge, berühmte Romane, selbstverständlich die Bibel, das Vaterunser in dreihundert Sprachen, Botschaften großer Männer, aber auch Filmaufnahmen von der furchtbaren Bombardierung Kantons durch die Japaner im Jahre 1937, Samen, eine Steckdose, einen Rechenschieber und alle möglichen anderen Dinge, sogar ein Damenhut der Herbstmode 1938 war in der Kapsel. Alle wichtigen Bibliotheken und Museen der Welt hatten eine Urkunde bekommen, auf der die Lage der ›Cupaloy‹ angegeben war, damit man den mit Beton zugeschütteten ›ewigen Schacht‹ im siebzigsten Jahrhundert auch wiederfand. Aber warum, fragte sich Anton, muß ausgerechnet bis zum Jahr 6938 gewartet werden? Könnte das alles nicht auch schon viel früher interessant sein?
    »Papa? Wie lange sind fünftausend Jahre her?«
    »Genau fünftausend Jahre«, sagte Herr Steenwijk, ohne von seinem Buch aufzublicken.
    »Ja, das habe ich mir schon gedacht. Aber gab es damals schon… ich meine…«
    »Sag doch, was du meinst.«
    »Na, daß die Menschen, so wie jetzt…«
    »Kultur hatten?« fragte die Mutter.
    »Ja.«
    »Warum läßt du den Jungen das nicht selbst formulieren?« fragte Herr Steenwijk und sah seine Frau über die Brille hinweg an. Und zu Anton: »Die steckte damals noch in den Kinderschuhen. In Ägypten und in Mesopotamien. Wie kommst du darauf?«
    »Weil hier steht, daß in…«
    »Fertig!« sagte Peter und richtete sich über seinen Wörter- und Grammatikbüchern auf. Er schob seinem Vater das Heft zu und stellte sich neben Anton. »Was liest du denn da?«
    »Nichts«, sagte Anton und deckte das Buch mit dem Oberkörper und gekreuzten Armen zu.
    »Laß das, Toni«, sagte die Mutter und gab ihm einen Schubs, daß er sich wieder aufrichtete.
    »Ich darf ihm nie reinschauen.«
    »Erstunken und erlogen, Anton Mussert«, sagte Peter – worauf Anton sich die Nase zuhielt und sang:
    »Denn als Pech bin ich geboren
    und als Pech werd' ich auch sterben…«
    »Ruhe!« rief Herr Steenwijk und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
    Weil Anton wie der Führer der NSB hieß, der NationalSozialistischen-Bewegung, wurde er oft gehänselt. Während des Krieges

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