Das Attentat
Spielchen machen, bevor wir ins Bett gehen.«
»Jetzt schon ins Bett?« sagte Peter.
»Wir müssen sparsam sein mit dem Karbid, es reicht nur noch für ein paar Tage.«
Aus einer Schublade der Kommode holte Frau Steenwijk die Mensch-ärgere-dich-nicht-Schachtel, schob die Lampe zur Seite und klappte das Spielbrett auf.
»Ich will Grün haben«, sagte Anton.
Peter sah ihn an und tippte mit dem Finger auf die Stirn.
»Glaubst du, daß du dann eher gewinnst?«
»Sicher.«
»Das werden wir ja sehen.«
Herr Steenwijk legte sein Buch aufgeschlagen neben sich, und bald darauf waren nur noch das Klappern der Würfel und das Tapp-Tapp der Figuren auf dem Spielbrett zu hören. Es war kurz vor acht Uhr: Sperrstunde.
Draußen war es still, so still, wie es auf dem Mond sein muß.
2
Die Stille, zu der der Krieg in Holland gegen Ende geworden ist, wird plötzlich durch einen sechsfachen scharfen Knall auf der Straße zerrissen: erst einmal, dann zweimal schnell hintereinander, nach ein paar Sekunden der vierte und fünfte Schuß. Kurz danach so etwas wie ein Schrei und noch ein sechster Schuß. Anton, der gerade würfeln will, erstarrt und schaut seine Mutter an, seine Mutter seinen Vater und sein Vater die Zwischentüren, nur Peter nimmt den Schirm der Karbidlampe und stülpt ihn über den Brenner.
Auf einmal saßen sie im Dunkeln. Peter stand auf, stolperte nach vorn, öffnete die Schiebetüren und spähte im Erker durch einen Spalt im Vorhang nach draußen. Sofort kam aus dem Wohnzimmer eine muffige Frostkälte herein.
»Sie haben auf jemanden geschossen«, sagte er. »Da liegt jemand.« Er ging schnell zum Flur.
»Peter!« rief seine Mutter.
Anton hörte, daß sie ihm nachlief. Auch er sprang auf und rannte zum Erker, wobei er geschickt allen Möbeln auswich, die er seit Monaten nicht gesehen hatte und auch jetzt nicht sah: den Sesseln, dem niedrigen runden Tisch mit der Spitzendecke unter der Glasplatte, dem Buffet mit der Keramikschale und den Portraits seiner Großeltern. Die Vorhänge, die Fensterbank, alles war eiskalt, und weil in diesem Raum schon lange niemand mehr geatmet hatte, waren nicht einmal Eisblumen auf den Scheiben. Es war ein mondloser Abend, aber der vereiste Schnee hielt das Licht der Sterne fest. Im ersten Augenblick dachte er, Peter hätte nur so dahergeredet, doch durch das linke Seitenfenster des Erkers sah er es dann auch:
Mitten auf der verlassenen Straße, vor dem Haus von Herrn Korteweg, lag ein Fahrrad, dessen in die Luft ragendes Vorderrad sich noch drehte – ein dramatischer Effekt, der später in Nahaufnahme in jedem Widerstandsfilm vorkam. Humpelnd rannte Peter den Vorgartenweg hinunter auf die Straße. Seit Wochen hatte er an einem Zeh des linken Fußes ein Geschwür, das nicht heilen wollte; seine Mutter hatte deshalb in Höhe des Zehs ein Stück Leder aus dem Schuh geschnitten. Er kniete sich zu einem Mann nieder, der neben dem Fahrrad reglos in der Gosse lag. Sein rechter Arm ruhte auf dem Bordstein, als hätte er es sich gemütlich gemacht. Anton sah den Glanz schwarzer Stiefel und den eisernen Beschlag der Absätze.
Die Mutter stand auf der Schwelle der Haustür und rief Peter laut und zugleich flüsternd zu, er solle sofort hereinkommen. Peter richtete sich auf, schaute links und rechts die Straße hinunter, schaute dann wieder auf den Mann und humpelte zurück.
»Es ist Ploeg«, hörte Anton ihn gleich darauf im Flur mit triumphierendem Unterton in der Stimme sagen. »Mausetot, wenn ihr mich fragt.«
Anton war zwölf Jahre alt, aber das wußte auch er schon: Fake Ploeg, Polizeioberinspektor, war der größte Mörder und Verräter von Haarlem und Umgebung. Auf dem Weg zur Dienststelle oder seinem Haus in Heemstede kam er hier regelmäßig vorbei. Ein großer, breitschultriger Mann mit grobem Gesicht, der meist eine dunkelbraune Sportjacke, ein Hemd mit Krawatte und einen Hut trug, dazu aber eine schwarze Reithose und Schaftstiefel. Ein Mann, der umgeben war vom Ruch der Gewalt, des Hasses und der Angst. Sein Sohn Fake war bei Anton in der Klasse. Anton starrte auf Ploegs Stiefel. Die kannte er. Ein paarmal war Fake von seinem Vater zur Schule gebracht worden, auf dem Gepäckträger dieses Fahrrads da. Wenn Vater und Sohn zum Schultor kamen, wurde es still, und Ploeg blickte spöttisch in die Runde; wenn er aber nicht da war, ging Fake mit gesenktem Blick in die Schule und mußte zusehen, wie er allein zurechtkam.
»Toni?« Die Stimme seiner Mutter. »Komm sofort
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