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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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daß…«
    »Karin«, sagte Anton. Sie schwieg und sah ihn an. »Ihr wart zu Hause. Ihr habt die Schüsse gehört. Und als ihr Ploeg auf der Straße liegen saht, seid ihr rausgegangen, um ihn von dort wegzuschleppen, nicht wahr?«
    »Ja. Mein Vater überrumpelte mich. Er faßte den Entschluß innerhalb von einer Sekunde.«
    »Hör zu. Irgendwann hattet ihr ihn jeder an einem Ende gepackt, dein Vater an den Schultern, du an den Füßen.«
    »Hast du das gesehen?«
    »Darum geht es nicht. Ich will nur eines wissen: Warum habt ihr ihn damals bei uns hingelegt und nicht bei Aartsens, euren Nachbarn auf der anderen Seite?«
    »Das wollte ich doch, das wollte ich doch!« rief Karin plötzlich aufgeregt, wobei sie ihre Hand auf Antons Arm legte. »Für mich war es ganz klar, daß er nicht zu euch kommen durfte, zu dir und Peter, sondern zu Aartsens, die nur zu zweit waren und die ich eigentlich gar nicht kannte. Ich machte schon einen Schritt in ihre Richtung, aber da sagte mein Vater: ›Nein, nicht dahin, da sind Juden.‹«
    »Herrgott!« rief Anton und griff sich an den Kopf.
    »Ja, ich wußte auch nichts davon, aber mein Vater, offensichtlich. Bei Aartsens war eine junge Familie mit einem kleinen Kind untergetaucht, schon seit dreiundvierzig. Am Befreiungstag habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Wenn Ploeg da gelegen hätte, wäre das für die auf jeden Fall das Ende gewesen. Sie werden wohl auch gesehen haben, was wir getan haben, aber sie haben nie Genaueres erfahren.«
    Die Aartsens, die niemand leiden konnte, weil sie sich um niemanden kümmerten: sie hatten drei Juden das Leben gerettet, und die Juden – indem sie bei ihnen waren – das ihre. Abgesehen von allem anderen war Korteweg also auch noch ein guter Mensch gewesen! Darum war Ploegs Leiche zu ihnen geschleppt worden, vor ihr Haus, so daß… Anton konnte den Gedanken nicht länger ertragen.
    »Auf Wiedersehen, Karin«, sagte er. »Nimm's mir nicht übel, ich… Laß es dir gut gehen.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sie stehen, ließ sie hilflos zurück, wandte sich ab und drängelte sich Kurven und Haken schlagend zwischen den Menschen hindurch, als wollte er sichergehen, daß sie ihn nicht wiederfinden konnte.

4
    Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. Er kam in einen Abschnitt des Demonstrationszuges, der sich noch oder wieder vorwärtsbewegte, und ließ sich mitziehen. Es schien ihm, als hülfen ihm all die Hunderttausende, die mit ihm gingen, dieser endlose Strom von Menschenleben, den er auf den Brücken über die Grachten vor sich und hinter sich sah, und der immer noch anschwoll durch immer neue Gruppen, die aus den Seitenstraßen auftauchten. Plötzlich spürte er eine Hand, die nach seiner Hand griff. Es war Peter, der ihn lachend ansah. Anton erwiderte das Lachen, aber er merkte, daß seine Augen zu brennen begannen. Er beugte sich zu ihm hinunter und drückte ihm wortlos einen Kuß auf das Haar. Peter begann ihm etwas zu erzählen, aber was er sagte, hörte Anton nicht.
    War jeder schuldig und unschuldig? War die Schuld unschuldig und die Unschuld schuldig? Die drei Juden – sechs Millionen waren ermordet worden, zwölfmal soviel, wie hier marschierten – diese drei Menschen hatten, indem sie in Lebensgefahr schwebten, sich selbst und zwei andere gerettet, ohne es zu wissen, doch an ihrer Stelle waren sein Vater und seine Mutter und Peter gestorben – mit Zutun von ein paar Eidechsen…
    »Peter?« sagte er – aber als der Junge zu ihm aufschaute, schüttelte er nur lachend den Kopf, worauf Peter das Lachen erwiderte. Im gleichen Moment dachte er: Ravage, natürlich, Ravage – so lautete die vage Umschreibung des Sonnengottes.
    Und als sie auf dem Weg zum Dam in der Nähe der Westerkerk waren, erhob sich plötzlich weit hinter ihnen ganz leise ein massenhafter, abscheulicher Schrei, der näher kam. Erschrocken drehten sich alle um. Was ging dort vor? Jetzt durfte nichts passieren! Es war unverkennbar ein Angstschrei, der nicht aufhörte und immer näher kam. Als er sie erreichte, war immer noch nichts passiert, aber alle begannen plötzlich unartikuliert zu schreien – auch Peter, auch Anton. Im nächsten Augenblick hatte der Schrei sie überholt, pflanzte sich nach vorne fort und ließ sie lachend zurück, bis er in der Kurve der Raadhuisstraat erstarb. Peter versuchte ohne Erfolg, ihn gleich noch einmal zu entfesseln. Aber ein paar Minuten später kam der Schrei wieder von hinten, überholte sie erneut

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