Das Attentat
Mehr als zwanzig Jahre nach dem Krieg hört der Holländer Anton Steenwijk zufällig, wie sich ein Mann damit brüstet, 1945 einen mit den Nazis kollaborierenden Polizeiinspektor durch mehrere Schüsse vom Fahrrad geholt zu haben. Dieser Widerstandskämpfer, denkt Anton, ist also dafür verantwortlich, daß seine Eltern umgekommen sind. Von diesem Tag an kommt er von der schrecklichen Nacht nicht mehr los. Warum haben die Leute des Widerstands, die mit Vergeltungsaktionen der Deutschen rechnen mußten, das Leben Unschuldiger riskiert? Warum hat der Nachbar den Verräter ausgerechnet vor die Tür der Steenwijks gelegt? Während die Kollaborateure inzwischen wieder seelenruhig in Amt und Würden sitzen, werden die Opfer nicht fertig mit der Vergangenheit. Die klaren Fronten sind durcheinandergeraten zwischen Freund und Feind, zwischen Besatzung und Widerstand. Und als wollte die Geschichte im nachhinein ihre Opfer verhöhnen, haben diejenigen, die in der Nacht des Attentats nichts gehört und gesehen haben wollen, am Ende als einzige eine weiße Weste.
»Souverän setzt Harry Mulisch zahlreiche Figuren und Motive, tragische und komische Inhalte, realistische und absurde, philosophische und poetische Erzählhaltungen ein, um in immer neuen Ansätzen die unbegreifliche Wahrheit von damals zu enthüllen. Die meisterlich erzählten und komponierten Elemente von Zufall und Notwendigkeit verstärken sich wechselseitig bei der Frage, wie Schuld und Schuldlosigkeit zu bestimmen seien angesichts dieses Geflechts von Ereignissen und Vorkommnissen.« (Uwe Herms, »Süddeutsche Zeitung«)
Harry Mulisch, geboren am 29. Juli 1927 in Haarlem, ist der Sohn eines ehemaligen Offiziers aus Österreich-Ungarn, der im Zweiten Weltkrieg mit den deutschen Besatzern kollaborierte, und einer Jüdin aus Frankfurt; seine (später geschiedenen) Eltern sprachen deutsch miteinander. Als Autor begann Mulisch mit einer Reihe von Sachbüchern, so einer Studie über Wilhelm Reich. Seither schrieb er Romane, Erzählungen, Gedichte, Dramen, Opernlibretti, Essays, Manifeste und philosophische Werke – ein wahrhaft vielseitiger Autor und in seiner Heimat auch ein vielgelesener; selbstironisch sagte er: »In Holland bin ich weltberühmt.«
1961 war er Berichterstatter vom Eichmann-Prozeß in Jerusalem und veröffentlichte darüber sein Buch »Strafsache 40/61«. In seinen Werken bricht oft das Abgründige und Irrationale in die Alltäglichkeit der Konventionen und das Leben des einzelnen ein. Mit seinem in 16 Sprachen übersetzten Roman »Das Attentat« wurde er dann tatsächlich weltberühmt.
Von Harry Mulisch erschienen außerdem: »Höchste Zeit« (rororoNr. 12508), »Augenstern« (rororo Nr. 12782), »Die Elemente« (rororo Nr. 13114) und »Vorfall« (rororo Nr. 13 364).
Prolog
Weit, weit zurück, im Zweiten Weltkrieg, wohnte ein gewisser Anton Steenwijk mit seinen Eltern und seinem Bruder am Stadtrand von Haarlem. An einer schmalen Straße, die über eine Länge von hundert Metern am Wasser entlangführte und dann in einem sanften Bogen zu einer gewöhnlichen Landstraße wurde, standen nicht weit voneinander entfernt vier Häuser. Sie hatten alle einen Garten und wirkten mit ihren kleinen Balkonen, Erkern und steilen Dächern trotz ihrer bescheidenen Größe wie Villen. In der zweiten Etage hatten alle Zimmer schräge Wände. Die Häuser standen ziemlich farblos und heruntergekommen da, denn schon in den dreißiger Jahren war nicht mehr viel daran getan worden. Ihre braven bürgerlichen Namen stammten aus sorgloseren Tagen:
Schöne Aussicht Freiruh Niegedacht Ruhehort
Anton wohnte im zweiten Haus von links, in dem Haus mit dem Reetdach. Es hatte den Namen ›Freiruh‹ bereits, als Antons Eltern es kurz vor dem Krieg mieteten; sein Vater hätte es lieber ›Eleutheria‹ genannt (oder so ähnlich) und den Namen in griechischen Buchstaben geschrieben. Schon bevor es zu der Katastrophe kam, hatte Anton unter ›Freiruh‹ nicht ›Ruhe im Freien‹ verstanden, sondern ›frei von Ruhe‹ – so wie ›angstfrei‹ auch nicht ›frei in Angst‹, sondern ›frei von Angst‹ heißt.
In ›Schöne Aussicht‹ wohnten Beumers, ein pensionierter, kränklicher Prokurist mit seiner Frau. Anton besuchte sie ab und zu und bekam jedesmal eine Tasse Tee und ein Plätzchen, das sie »Feingebäck« nannten – jedenfalls, als es noch Tee und Plätzchen gab, aber das war vor dem Anfang dieser Geschichte, die die Geschichte eines Vorfalls ist.
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