Totenverse (German Edition)
1
Die tote Frau lag auf dem Strand. »Evas Grab«, dachte er unwillkürlich, aber nicht in Gedanken an das eigentliche Grab Evas in Dschidda, das 1928 eingeebnet wurde, um ihrer Verehrung ein Ende zu machen, und dann noch mal 1975, um ganz auf Nummer sicher zu gehen. Nein, dieses ungewöhnliche Grab war ein schlichter schmaler Streifen Strand nördlich von Dschidda.
An diesem Nachmittag stapfte Abu-Yussuf mit seiner Angel den sanften Hang hinunter zum Wasser. Er war ein erfahrener Angler, und er war dieser Tätigkeit eigentlich immer eher aus sportlichen denn aus praktischen Gründen nachgegangen, doch nach den Entlassungen in der Entsalzungsanlage galt es nun vor allen Dingen, seine Familie zu ernähren. Mit seinen zweiundsechzig Jahren sah er aber, da er mit dem Hauttyp seiner Mutter gesegnet war, noch immer so frisch aus wie ein Mann in den Vierzigern, obwohl er zeit seines Lebens der Sonne ausgesetzt gewesen war. Er erreichte den festen Sand am Wasser mit einem überschwänglichen Gefühl der Vorfreude. Keine Frage, es gab schlechtere Arten, eine Familie zu ernähren. Er blickte den Strand entlang, und da war sie. Die Frau, die er später in Gedanken Eva nannte.
Er stellte seine Angelkiste auf den Sand. Die Frau lag auf dem Rücken, das dunkle Haar ausgebreitet wie die Fangarme einer gefährlichen Anemone. Der Seetang auf ihrem Gewand sah auf den ersten Blick aus wie eine grässliche Wucherung. Ein Arm war unter den Körper gebogen, der andere war nackt. Das Gewand war aufgerissen, und der Arm ruhte fast flehend auf dem Sand, als wollte er nach einem Kissen greifen wie ein Schlafender in einem Albtraum. Die untere Hälfte der Frau war nackt, das schwarze Gewand bis über die Taille hochgeschoben, die Jeans bis zu den Knöcheln runtergezogen und um die Füße gewickelt wie eine Kette. Abu-Yussufs Blick wanderte zu der Gesichtshälfte, die nicht im Sand eingesunken war. Er näherte sich vorsichtig, für den Fall, dass sie schlief, für den Fall, dass sie sich aufsetzte und die Augen rieb und ihn für einen Dschinn hielt. Doch als er fast bei ihr war, sah er, dass etwas Schreckliches mit ihrem Gesicht passiert war. Ein Auge war offen, leer, tot.
» Bismillah, ar-rahman, ar-rahim «, flüsterte er. Sein Mund murmelte das Gebet, während er fassungslos und entsetzt auf die Tote stierte. Er wusste, er sollte lieber nicht hinsehen, damit sich ihm das Bild nicht ins Gedächtnis einbrannte, aber es war schier unmöglich, den Blick abzuwenden. Ihr Gesicht sah aus wie durch den Fleischwolf gedreht. Ihr rechtes Bein war halb im Sand vergraben, doch jetzt, aus der Nähe, sah er, dass das linke an der Innenseite des Oberschenkels zahllose rote Schnitte aufwies, aufgequollen und bogenförmig wie Tamarinden. Die gesamte Hüfte war blutunterlaufen. Er wusste, dass er die Leiche nicht berühren durfte, aber er hatte den Impuls, Sand über ihre Blöße zu schaufeln, um ihr einen letzten Rest Würde zu geben.
Er musste zurück nach oben auf die Straße, wo sein Handy Empfang hatte. Die Polizei kam, dann ein Rechtsmediziner und die Spurensicherung. Abu-Yussuf wartete am Strand, die Angel noch in der Hand, die Angelkiste auf dem Boden zu seinen Füßen. Der junge Beamte, der als Erster eingetroffen war, behandelte ihn rücksichtsvoll und nannte ihn »Onkel«. Möchten Sie etwas trinken, Onkel? Einen Stuhl vielleicht? Ich kann Ihnen einen Stuhl holen. Sie befragten ihn höflich. Ja, Onkel, das ist wichtig. Vielen Dank. Die ganze Zeit war die Frau in seinem Blickfeld. Aus Höflichkeit schaute er nicht hin.
Während die Spurensicherer arbeiteten, beschlich Abu-Yussuf eine furchtbare Müdigkeit. Er spürte, wenn er die Augen schloss, würde ihn ein gefährlicher Schlaf übermannen, daher ließ er die Augen hinaus aufs Meer wandern und seine Gedanken noch weiter in die Ferne. Eva . Ihr echtes Grab war in der Stadt. Er hatte es immer eigenartig gefunden, dass sie in Dschidda beerdigt war und Adam in Mekka. Hatten sie sich zerstritten, nachdem sie aus dem Garten Eden vertrieben worden waren? Oder war Adam, wie so viele Männer heutzutage, einfach zuerst gestorben, und Eva war danach umhergewandert? Seine Großmutter, Friede ihrer Seele, hatte ihm einmal erzählt, Eva sei 180 Meter groß gewesen. Seine Großmutter hatte als Kind das Grab Evas gesehen, ehe der Vizekönig es zerstören ließ. Es war länger gewesen als die gesamte Kamelkarawane ihres Vaters.
Einer der Spurensicherer bückte sich, um unter den Leichnam zu greifen.
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