Das Auge der Fatima
die Hose aus und w arf sie in die bereitstehenden Wäschesäcke. Nur in Unterwäsche trat sie durch die zweite Tür in den Umkleideraum, wo ihre Sachen hingen - das weiße Hemd und die weiße Hose. Einen weißen Kittel trug sie in der Regel nur während der Chef-Visite oder zu anderen vergleichbaren Gelegenheiten. Sie zog sich an. Langsam, viel zu langsam, während sie immer wieder an ihre erste Reise denken musste.
Damals hatte sie in Buchara Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina kennen gelernt. Er war auch Arzt gewesen, sogar ein sehr berühmter in der damaligen Zeit. Und, so verrückt und seltsam es war, er war Michelles Vater. Wenn er doch nur hier sein könnte! Dann wäre sie in dieser entsetzlichen Situation wenigstens nicht allein.
Beatrice ärgerte sich, als ihr einfiel, dass sie noch einmal auf die Station gehen musste, denn dort lagen verschlossen in ihrem Schrank die Autoschlüssel. Und natürlich musste sie auch den Schwestern sagen, dass Thomas sie vertreten würde. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Kollegen. Was er heute getan hatte, würde sie ihm nie vergessen. Niemals.
Beatrice war selbst überrascht, als sie sich im nächsten Augenblick auf der Station wiederfand. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie gegangen war. Sie ging in das Arztzimmer, trat zu ihrem Schrank und nahm ihre Tasche heraus.
»Frau Dr. Helmer?« Schwester Ursula, die Stationsschwester, kam herein und sah sie besorgt an. »Stimmt etwas nicht?«
»Ich muss weg«, sagte Beatrice und wunderte sich, wie normal ihre Stimme plötzlich klang. Fast so, als hätte sie nur etwas zu Hause vergessen. Etwas vergleichbar Unwichtiges wie ihren Ausweis oder ihr Geld. »Ich habe einen Anruf bekommen. Meine Tochter ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Dr. Breitenreiter wird mich solange vertreten.«
Schwester Ursula sah sie mit dem entsetzten, mitfühlenden Blick eines Menschen an, der genau wusste, was in diesem Moment in Beatrice vorging. Auch sie war Mutter. Sie hatte drei Söhne, die immer mal wieder mit mehr oder weniger schweren Blessuren vom Sport nach Hause kamen.
»Ist es etwas Schlimmes?«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Ich weiß es noch nicht.«
Als Beatrice kurz darauf hinter dem Steuer ihres Wagens saß, warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war vierzehn Uhr dreiunddreißig. Seit ihrem Telefonat mit dem Chef waren gerade mal fünf Minuten vergangen, dabei kam es ihr vor, als wäre es mindestens eine Stunde her. Offensichtlich war sie doch nicht so langsam gewesen, wie es ihr erschienen war. In der Tat musste sie schneller als der Blitz gewesen sein. Sie trug sogar noch ihre weiße Krankenhauskleidung. Eine Sekunde lang überlegte sie, ob sie wieder zurückgehen und sich umziehen sollte. In weißer Kleidung das Krankenhausgelände zu verlassen, verstieß eigentlich gegen die Vorschrift.
Egal. Wer in so einer Situation kein Verständnis aufbringt, kann mich mal gern haben. Dann zahle ich eben ein Bußgeld.
Beatrice startete den Wagen und fuhr vom Personalparkplatz. Ein alter Mann auf einem gelben Klapprad kreuzte die Ausfahrt. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr zu bremsen.
Vielleicht hättest du doch auf Thomas hören und ein Taxi rufen sollen, dachte sie, während sie dem Alten nachschaute. Unbeirrt trat er weiter in die Pedale, als hätte er gar nicht bemerkt, dass er um ein Haar auf ihrer Motorhaube gelandet wäre. Beatrice legte beide Hände auf das Lenkrad und atmete tief durch. Das war noch einmal gut gegangen.
Du musst dich besser konzentrieren, Bea!, ermahnte sie sich selbst. Sonst kommst du niemals heil am anderen Ende der Stadt im Kinderkrankenhaus an.
Tatsächlich schaffte sie es, ihre Gedanken an Michelle zu verdrängen und sich ganz auf den Verkehr zu konzentrieren. Diese Fähigkeit zur Konzentration hatte sie sich in den vergangenen Jahren angeeignet, sozusagen als Nebenprodukt ihrer chirurgischen Tätigkeit. Wer sich nachts um halb drei nach zwanzig Stunden Dienst nicht selbst wieder aus einem toten Punkt herausreißen konnte, um einen von Messerstichen zerfetzten Magen zusammenzuflicken, konnte auf Dauer in der Chirurgie nicht bestehen.
Trotzdem war sie überrascht, als sie schließlich auf dem Parkplatz des Kinderkrankenhauses ihren Wagen abstellte - ohne neue Beulen in der Stoßstange ihres Wagens und ohne schwerwiegende Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung begangen zu haben.
Hewlett-Packard
2.
D ie ältere Dame, bei der Beatrice sich am Eingang des Krankenhauses nach ihrer Tochter
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