Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
15. Januar 1893
Emily Wheilers Aufzeichnungen
Dies ist kein Tagebuch. Ich empfinde Abscheu allein bei dem Gedanken, meine Gedanken und Taten in einem Buch zu horten und wegzuschließen, als seien sie kostbare Juwelen.
Ich weiß: Meine Gedanken sind keine kostbaren Juwelen.
Seit einiger Zeit befürchte ich, dass meine Gedanken eher Früchte des Wahnsinns sind.
Aus diesem Grund drängt es mich, sie niederzuschreiben. Mag sein, dass mir irgendwann in der Zukunft beim nochmaligen Durchlesen klarwerden wird, warum mir jene grauenhaften Dinge zugestoßen sind.
Oder mir wird klarwerden, dass ich in der Tat verrückt geworden bin.
Sollte das der Fall sein, so mag dies Büchlein bezeugen, wie mein paranoider Wahn begann, damit auf dieser Grundlage nach einem Heilmittel gesucht werden kann.
Nur – will ich geheilt werden?
Vielleicht sollte diese Frage vorerst zurückgestellt werden.
Ich will mit dem Tag beginnen, an dem alles anders wurde. Es war nicht der heutige, an dem ich diese Niederschrift beginne. Er liegt zweieinhalb Monate zurück – am ersten November des Jahres 1892. Dem Morgen, als meine Mutter starb.
Selbst hier, auf den stummen Seiten dieses Büchleins, zögere ich, mir jenen schrecklichen Morgen ins Gedächtnis zu rufen. Meine Mutter starb in einem Schwall von Blut, der sich aus ihr ergoss, nachdem sie den winzigen, leblosen Körper meines Bruders zur Welt gebracht hatte – Barrett, benannt nach Vater. Schon damals, nicht anders als heute, hatte ich das Gefühl, dass Mutter einfach aufgab, als sie erkannte, dass Barrett nicht leben würde. Es war, als könnte nicht einmal die Lebenskraft, die ihr innewohnte, den Verlust ihres heißersehnten einzigen Sohnes ertragen.
Oder konnte sie es in Wahrheit nicht ertragen, nach dem Verlust des heißersehnten einzigen Sohnes Vater in die Augen zu sehen?
Vor jenem Morgen wäre mir diese Frage niemals gekommen. Bis zu dem Tag, an dem meine Mutter starb, war mein Kopf von Fragen wie jener erfüllt, wie es mir wohl gelingen würde, Mutter zu überreden, mir ein zweites Radfahrkostüm zu kaufen, wie sie derzeit der letzte Schrei sind, oder wie ich es wohl anstellen könnte, dass mein Haar genauso aussah wie das eines Gibson Girls.
Hatte ich vor dem Tag, an dem Mutter starb, an Vater gedacht, so auf eine Weise, wie die meisten meiner Freundinnen an ihre Väter denken – als unnahbaren, etwas einschüchternden Patriarchen. In meinem Fall war es sogar so, dass ich Lob von ihm nur aus Mutters Kommentaren erahnen konnte. Im Grunde schien er mich vor Mutters Tod kaum wahrzunehmen.
Als Mutter starb, war Vater nicht dabei. Der Arzt hatte beschieden, dass der primitive Geburtsvorgang nichts sei, was einem Mann zu sehen anstünde, schon gar nicht einem Mann von solcher Bedeutung wie Barrett H. Wheiler, Präsident der First National Bank von Chicago.
Und ich? Die Tochter von Barrett und Alice Wheiler? Mir gegenüber sagte der Arzt nichts von der Primitivität einer Geburt. Tatsächlich nahm er erst überhaupt Notiz von mir, als Mutter tot war und Vater mich bei ihm in Erinnerung rief.
»Emily, verlasse mich nicht. Warte mit mir, bis der Doktor kommt, und bleib dann hier in der Fensternische sitzen. Du sollst wissen, was es bedeutet, Ehefrau und Mutter zu sein. Du sollst dich nicht blind darauf einlassen, wie ich es tat.« So hatte Mutter mich mit ihrer leisen Stimme gebeten, die bei allen, die sie nicht näher kannten, den Eindruck erweckte, sie sei etwas schlicht im Geiste und lediglich ein hübsches, gefügiges Anhängsel an Vaters Arm.
Ich hatte genickt, »Ja, Mutter« gesagt und getan wie befohlen. Ich erinnere mich, wie ich still wie ein Schatten in der unbeleuchteten Fensternische gegenüber von Mutters Bett in ihrem prächtigen Schlafzimmer gesessen hatte. Ich sah alles mit an. Sie brauchte nicht lange, um zu sterben.
Es war so unvorstellbar viel Blut. Schon Barrett kam in Blut gebadet zur Welt – ein winziges, schlaffes, blutverschmiertes Geschöpf, das aussah wie eine grotesk verkrümmte Puppe. Aber nachdem er in jenem letzten Wehenkrampf aus der Öffnung zwischen den Beinen meiner Mutter ausgestoßen worden war, hörte das Blut nicht auf zu fließen. In immer neuen Wellen trat es aus, während meine Mutter so lautlos weinte, wie ihr Sohn da lag. Dass sie weinte, weiß ich, weil sie das Gesicht abwandte, als der Arzt ihr totes Kind in weiße Tücher wickelte. Und dann sah sie mich an. Da war es mir unmöglich, sitzen zu bleiben. Ich stürzte an ihr
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