Das Auge der Fatima
Dr. Neumeier, unser Oberarzt, ist gerade bei Ihrer Tochter. Wenn er seine Untersuchung abgeschlossen hat und die Laborergebnisse da sind, können Sie mit ihm sprechen und Ihre Tochter sehen.«
Beatrice folgte der Schwester den Gang entlang bis zu einer zweiten Glastür. Dahinter lag vermutlich die eigentliche Intensivstation, die man, ähnlich wie den OP-Trakt, nur mit besonderer Kleidung betreten durfte. Diese Maßnahme diente der Sicherheit der schwer kranken Patienten, die gegen jedes von außen eindringende Bakterium extrem anfällig waren und denen jede noch so banale Infektion unter Umständen das Leben kosten konnte. Rechts neben der Glastür befand sich eine Tür mit der Aufschrift »Wartezimmer«. Diese Tür öffnete die Schwester.
»Bitte«, sagte sie und ließ Beatrice an sich vorbei eintreten. »Sobald Dr. Neumeier fertig ist, schicke ich ihn zu Ihnen.«
In dem mit grünen Polstersesseln und einem Kaffeeautomaten ausgestatteten Raum befanden sich bereits ein Mann und eine Frau - ihre Eltern.
Ihre Mutter sprang auf und stürzte auf sie zu. Ihr Gesicht war nass und verquollen. Sie schlang ihre Arme um Beatrice und begann laut zu weinen.
»O Kind! Wie gut, dass du jetzt da bist«, schluchzte sie, und für einen kurzen Augenblick empfand Beatrice Wut. War nicht sie es, die eigentlich getröstet werden musste? »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte! Ich weiß es wirklich nicht!«
Beatrices Vater kam näher, langsam und schwerfällig, als müsste er eine zentnerschwere Last tragen. Er sprach kein Wort. Er drückte nur Beatrices Arm, wobei eine einzelne Träne seine aschfahle, eingefallene Wange hinablief. Er sah aus wie ein Greis.
Beatrice befreite sich aus der Umarmung ihrer Mutter und setzte sich auf die Kante eines der Sessel, die dem freudlosen Raum wohl einen Hauch von Behaglichkeit und entspannter Atmosphäre verleihen sollten. Doch selbst wenn es sich um einen mit Stacheldraht umwickelten Poller gehandelt hätte, wäre es ihr egal gewesen. Vermutlich hätte sie es noch nicht einmal gemerkt.
»Erzähl bitte der Reihe nach. Was ist passiert. War es ein Unfall? Ist sie mit ihrem Fahrrad ...?«
»Nein«, sagte ihre Mutter. Sie schluchzte immer noch heftig und presste sich das zerknüllte Taschentuch auf die Augen. »Michelle hat zu Hause gespielt. Ich war in der Küche, um ihr einen Apfel zu schälen. Und als ich wiederkam, lag sie auf dem Boden. Ich dachte zuerst, dass sie eingeschlafen ist. Sie war heute nämlich sehr müde, als Papa sie aus dem Kindergarten abgeholt hat. Die Kinder haben wohl den ganzen Vormittag draußen herumgetobt. Ich wollte sie wecken, doch sie hat nicht reagiert, ganz gleich, was wir auch versucht haben. Schließlich bekamen wir es mit der Angst zu tun und haben einen Krankenwagen gerufen.«
Beatrice ließ sich im Sessel zurücksinken und rieb sich die Stirn.
»Und was meinen die Ärzte?«, fragte sie.
»Die wissen immer noch nichts. Aber vielleicht wollen sie uns auch nichts sagen, schließlich sind wir nur die Großeltern.«
»Die Schwester sagte, dass wir mit dem Arzt sprechen können, sobald er seine Untersuchung beendet hat und die wichtigsten Laborergebnisse da sind.«
Beatrice sah ihren Vater an. Seine Stimme klang leise, wie gebrochen. Kein Wunder. Er liebte seine kleine Enkelin wie keinen zweiten Menschen, sodass Beatrice sogar manchmal ein wenig eifersüchtig auf ihre Tochter wurde. Wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, er hätte in diesem Moment sicherlich ohne zu zögern mit Michelle die Plätze getauscht.
Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür, und ein Arzt kam herein. Er war so groß, dass er sich beim Eintreten bücken musste. Typischerweise trug er blaue OP-Kleidung. Aus der Tasche des Hemdes ragte der Griff eines Reflexhammers hervor, am Ausschnitt klemmten die Diagnostikleuchte sowie ein blauer und ein roter Kugelschreiber, über seinem Nacken baumelte das Stethoskop. Er sah aus wie jeder auf der Intensivstation tätige Arzt in jedem beliebigen Krankenhaus. Allerdings war sein Stethoskop bunt und der Kopf des Gerätes war ungewöhnlich klein, insbesondere im Vergleich zur Körpergröße des Arztes. Es war ein Kinderstethoskop.
»Frau Helmer?« Er wandte sich fragend an Beatrice, deren Herz plötzlich wie ein Dampfhammer zu klopfen begann. Ihr Mund wurde staubtrocken. Sie fühlte sich, als würde die Zukunft der ganzen Menschheit allein von ihr und dem Verlauf der nächsten Sekunden abhängen.
»Ja«, flüsterte sie. Sie räusperte sich
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