Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
… tausendmal ist nichts passiert …
Januar, Hochnebel, sieben Uhr morgens.
Die Kälte kroch Kai van Harm durch Wollmantel, Jackett und kariertes, englisches Button-down-Hemd bis auf die Haut, als er die zwei Kilometer in Angriff nahm, die seine geräumige Altbauwohnung am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer vom Bürogebäude entfernt lag, in dem sich die Redaktion jener nicht unbedeutenden Berliner Tageszeitung befand, die ihm sein regelmäßiges Einkommen sicherte. Nur wenige Passanten kamen ihm, die Köpfe gesenkt, die Schultern frierend eingezogen, entgegen. Sie hatten allesamt Rucksäcke aufgeschnallt, oder es baumelten billige Supermarkttüten aus Plastik an ihren Handgelenken. Fast jeder hatte, dem Trend zur Gesundheit entgegen, eine Zigarette zwischen den unbehandschuhten Fingern. Ihr Tempo war gehetzt, und ihre Kleidung wirkte, wenigstens im fahlen Licht der Straßenlaternen, standardisiert und billig.
Van Harm, der sonst um diese Zeit gewöhnlich noch schlief, fiel auf, dass er selbst der einzige Aktentaschenträger war.
Er mochte sich nicht wirklich ausmalen, wohin die traurigen Gestalten um diese ungöttliche Stunde eilten: hin zu Großküchen und Schlachthöfen. Markthallen von Zola’schem Ausmaß entgegen, wo es nach faulem Gemüse und ranzigem Fleisch roch. Und was es da sonst noch alles so gab, um seine Haut für eine Handvoll Kleingeld zu verkaufen: Großreinigungen, Putzkolonnen, Schrottplätze der Stadtreinigung, Klärwerke, Armenspeisungen, Autowerkstätten. Er hatte keine rechte Ahnung von diesen Dingen, und er war auch nicht besonders traurig, sich darin nicht auskennen zu müssen.
Außerdem registrierte er, dass nur jede zweite der Straßenlaternen funktionierte, exakt alternierend, eine ging, die nächste war dunkel, und so weiter, als sei dies Absicht, ein Muster, doch zu welchem Zweck, wollte sich ihm jetzt in der Frühe nicht erschließen. Sparmaßnahmen vermutlich, die Universalerklärung für jegliches öffentliche Ungemach.
Das Wasser des Kanals war noch immer gefroren, schon in der dritten Woche jetzt, ohne Unterbrechung, exakt seit dem Silvestermorgen. Am vergangenen Sonnabend, als er trotz der arktischen Temperaturen auf den Markt gegangen war, der zweimal wöchentlich am Kanalufer seine Stände aufschlug, hatte es auf dem gefrorenen, in der Wintersonne funkelnden Eis nur so gewimmelt von dick vermummten Schlittschuhläufern, von krakeelenden Kindern mit Schlitten und Hockeyschlägern, von vorsichtig tapsenden Hunden aller Formen und Größen, ein Anblick, der ihn an die winterlichen Grachtenidyllen niederländischer Barockmaler erinnert und ihm ein Grinsen ins Gesicht gezaubert hatte, das fast eine Stunde später noch nicht vergangen war. Als er oben seine Einkäufe auspackte, vier frische Forellen, drei Pfund Bamberger Hörnchen, zwei Bündel gemischte Kräuter für Frankfurter Soße und eine Sechser-Kiste badischen Gewürztraminer, hatte er noch immer gelächelt. Seine Frau Constanze, die am rustikalen Küchentisch aus Birnenholz saß und tat, als lese sie Zeitung – ausgerechnet ein Blatt der linksliberalen, überregionalen Konkurrenz, das sie angeblich wegen ihrer politischen Arbeit täglich studieren musste und deshalb auch abonniert hatte –, warf ihm immer wieder kurze Blicke über den Zeitungsrand zu, wohl in der Erwartung, dass er sein sonderbares Verhalten erkläre. Aber Kai van Harm, als er einen ihrer Blicke entdeckt hatte, ärgerte sich so über das Misstrauen, das aus diesem sprach, dass er Constanze kein Sterbenswort erzählte von der lieblichen Eislaufidylle vorm Haus.
Dafür war ihm wieder einmal der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass das angeblich so wichtige Käseblatt mit Sicherheit zu Dutzenden, ja Hunderten Exemplaren im Abgeordnetenhaus zu Berlin herumlag, wo Constanze nicht nur ein geräumiges Büro samt Hiwi, einem schlaksigen Politikstudenten von der Freien Universität, sondern auch einen bequemen Polstersessel im Plenarsaal besaß. Sie gehörte der drittgrößten Fraktion des Landesparlaments an, und als sie vor mehr als zehn Jahren unter Kais spöttischen Bemerkungen begonnen hatte, sich im Viertel für dieses und jenes zu engagieren, für Kinderbibliotheken und Zebrastreifen, für Tempo-30-Zonen und interkulturelle Begegnungsstätten, für ein vegetarisches Alternativgericht in der Schulspeisung und was es da sonst noch alles an Gutgemeintem gab, hätte er nicht im Traum gedacht, dass aus diesem Weltverbesserungsspleen je ein Beruf werden
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