Das Auge des Leoparden
Tür hört er das Murmeln seines Vaters, nervöses Lachen, verzweifelte Wutanfälle.
Es geschieht immer nachts.
Als er zum erstenmal aufwachte und in die Küche schlich, war er fünf oder sechs Jahre alt. Im blassen Schein der Küchenlampe mit dem Milchglasschirm sah er seinen Vater im Putzwasser waten, die braunen Haare wüst zerzaust. Ohne es in Worte fassen zu können, hatte er doch begriffen, daß er selbst unsichtbar war. Ein anderes Sehen ergriff Besitz von seinem Vater, sobald er den Boden mit der Scheuerbürste bearbeitete. Er sah etwas, was nur er sehen konnte, und das machte Hans mehr angst, als wenn der Vater plötzlich eine Axt über seinem Kopf erhoben hätte.
Im Bett liegend und lauschend weiß er, daß die kommenden Tage still sein werden. Sein Vater wird sich nicht rühren, wird im Bett bleiben, bis er schließlich wieder aufsteht und seine grobe Arbeitskleidung anzieht, um erneut in den Wald zu ziehen, wo er für
Iggesund
oder
Marma Långrör
Bäume fällt.
Keiner der beiden, weder Vater noch Sohn, wird das nächtliche Schrubben mit einem Wort erwähnen. Dem Jungen im Bett kommt es fast so vor, als verflüchtige es sich wie eine boshafte Sinnestäuschung, bis er eines Nachts wieder davon wach wird, daß der Vater seine Dämonen fortschrubbt.
Aber jetzt, im Februar 1956, ist Hans Olofson zwölf Jahre alt; er wird sich in wenigen Stunden anziehen, wird ein paar Scheiben Brot verdrücken, seinen Ranzen schultern und sich in der Kälte auf den Weg zur Schule machen.
Die nächtliche Dunkelheit ist eine zwiespältige Gestalt, Freund und Feind zugleich. Aus der Schwärze kann sie Alpträume und vage Ängste heraufbeschwören. Das verkrampfte Gebälk verwandelt sich in der eisigen Kälte in Finger, die nach ihm greifen. Doch die Dunkelheit kann auch ein Freund sein, eine Möglichkeit, sich Gedanken über das Bevorstehende zu machen, das, was man Zukunft nennt.
Er malt sich aus, wie er zum letztenmal das einsame Holzhaus am Fluß verläßt, die Brücke über den Fluß überquert, unter der Wölbung des Brückenbogens in die Welt hinaus verschwindet, zunächst einmal in Richtung Orsa Finnmark.
Warum bin ich ich, denkt er.
Ich und kein anderer?
Er weiß genau, wann ihn dieser alles entscheidende Gedanke zum erstenmal heimgesucht hat.
Es war an einem hellen Sommerabend, als er in der stillgelegten Ziegelei hinter dem Krankenhaus spielte. Sie hatten sich in Freunde und Feinde aufgeteilt, ohne genaue Spielregeln festzulegen, und das fensterlose, halb eingestürzte Fabrikgebäude abwechselnd gestürmt und verteidigt. Sie spielten oft dort, nicht nur, weil es verboten war, sondern auch, weil das eingestürzte Gebäude wie eine sich immer wieder anpassende Kulisse war. Die Fabrik hatte ihre Identität verloren, aber durch ihre Spiele gaben sie der Ruine ein neues Gesicht, das sich laufend veränderte. Die verfallene Ziegelei war ihnen wehrlos ausgeliefert, die Schatten der Menschen, die früher hier gearbeitet hatten, waren nicht mehr da, um das Gebäude zu verteidigen. Jetzt herrschten hier die spielenden Kinder. Nur selten kamen schimpfende Eltern vorbei und rissen ihre Kinder aus dem wüsten Toben. Es gab Schächte, in die man stürzen, verrottete Leitern, von denen man fallen, verrostete Ofenluken, in denen man sich Hände und Beine einklemmen konnte. Aber die Kinder kannten die Gefahren und mieden sie, hatten längst die sicheren Wege durch das weitläufige Gebäude ausgekundschaftet.
An jenem hellen Sommerabend, als er sich hinter einem eingestürzten rostigen Brennofen versteckt hatte, um von seinen Spielkameraden entdeckt und gefangen zu werden, hatte er sich zum erstenmal die Frage gestellt, warum er er selbst war – und kein anderer. Der Gedanke hatte ihn gleichermaßen erregt und empört, hatte er doch das Gefühl, ein unbekanntes Wesen sei in seinen Kopf gekrochen und habe ihm das Losungswort für die Zukunft zugeflüstert. Von nun an würden ihm alle Gedanken und das Denken selbst wie eine Stimme von außen erscheinen, die in seinen Kopf kroch, ihre Botschaft überbrachte und anschließend auf dem schnellsten Wege wieder verschwand.
Damals hatte er aufgehört zu spielen, war davongeschlichen, zwischen den Kiefern verschwunden, von denen die tote Ziegelei umsäumt war, und zum Fluß hinuntergegangen.
Im Wald war es still gewesen, noch hatten die Mückenschwärme das Städtchen nicht erobert, das an einer Biegung des Flusses auf dessen langem Weg zum Meer lag. Eine Kähe krächzte ihre
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