Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
schwarzen Strähnen. „Mein Onkel hat wohl kein aktuelles Foto von mir.“
Tony schien sich zu freuen, dass ich nicht allzu böse war. „Bist du ein Goth oder wie man die heutzutage nennt?“
„Nein, nein.“ Diese Frage kam immer; ich hatte mittlerweile gelernt, damit umzugehen. „Ich trage einfach gerne Schwarz.“
Ich lehnte mich zurück. Mein Magen knurrte vernehmlich, und ich versuchte mich abzulenken, indem ich die Stadt betrachtete. Besonders viel Stadt gab es allerdings nicht. Wir fuhren durch eine winzige pittoreske Innenstadt. Wenigstens hungerten die Einwohner hier nicht; immerhin entdeckte ich eine Pizzeria plus Eiscafé und einen Chinesen.
„Vergiss den Chinamann. Wenn du essen gehen willst, bist du dort drüben richtig. Der Italiener ist der Beste hier in der Gegend“, vertraute Tony mir an. „Silvio Testa. Da musst du unbedingt mal hin. Das Eis … mmmh.“ Ich hatte schon Angst, er würde genießerisch die Augen schließen und gegen einen Laternenmast fahren, aber er nahm sich zusammen. „Und die Pizza, die lege ich dir ans Herz. Wärmstens. Du wirst nie wieder hier wegwollen.“
„Ach ja?“ Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Gleich sagen Sie mir noch, Sie sind der Koch.“
„Das wäre zu viel der Ehre“, meinte Tony bescheiden und lachte, „das Glück hat mein Cousin. Ich bin bloß der Taxifahrer hier. Ach, und bei der Freiwilligen Feuerwehr bin ich natürlich auch. Der schnellste Feuerwehrmann weit und breit.“
„Ein Kino gibt es wohl nicht?“, erkundigte ich mich wenig optimistisch.
„Oh doch, doch“, versicherte er. „Es wird dir hier gefallen. Das Kino ist gleich hinter dem Schuhgeschäft.“ Bei dem Wort „Schuhgeschäft“ schien er auf einen Ausbruch von Begeisterung zu warten, und als ich nicht wie gewünscht reagierte, fügte er hinzu: „Okay, ich kann dir nicht versprechen, dass sie was in deinem Stil haben.“ Er wirkte ehrlich besorgt darüber, dass ich sofort wieder umkehren könnte. „Wie lange bleibst du denn?“
„Weiß ich noch nicht.“ Sechs Wochen schienen mir schrecklich lange, und vielleicht kam ich ja doch drum herum. Ich wusste nicht, wie ich es diese ganze Zeit ohne meine beste Freundin Tatjana aushalten sollte.
In diesem Moment schaltete die vermutlich einzige Ampel des Ortes auf Rot, und wir hielten direkt neben einer „Riebeck & Meyrink“-Filiale. Ich brauchte gar nicht erst die verschnörkelte Schrift auf dem großen Schild zu lesen, denn die Schaufensterdekoration mit den Holzkisten und Weinflaschen und den grob gezimmerten Regalen sprach für sich. Natürlich, ich hätte mir denken können, dass es in Onkel Vincents Dorf einen Ableger seiner Delikatessen-Kette gab. Durch die spiegelnde Scheibe erhaschte ich einen Blick auf die Verkäuferin, eine Frau mit einer grauen, gewellten Omafrisur. Da musste ich wohl noch mal hin, diese Omi würde sich prima in meiner Cartoon-Sammlung machen.
„Schöne Sachen gibt es da“, meinte Tony gutmütig.
„Ja, geht so.“ Ich war nicht bereit, die Werbetrommel für Onkel Vincent zu rühren.
„Der Wein ist gut und gar nicht mal so teuer.“
„Ich trinke keinen Wein.“
„Oh.“ Nun begriff wohl selbst mein Chauffeur, dass ich auf meine Verwandtschaft mit dem „Riebeck & Meyrink“-Imperium keinen großen Wert legte. Umso entschlossener plapperte er weiter. „Nun ja, aber du bist ja auch erst fünfzehn, scusi, sechzehn. Die Bio-Nudeln sind wohl eher dein Ding? Oder die Sesamcräcker?“ Der Typ schien tatsächlich das ganze Sortiment zu kennen. „Er ist übrigens ein netter Mann, dein Onkel. Wirklich ein sehr netter Mann.“
„Wenn Sie meinen.“
Wir fuhren aus dem Städtchen heraus und tauchten in den Schatten eines Waldes. Gleich darauf bog Tony in einen Seitenweg ein, der sich endlos durch das Gestrüpp schlängelte.
„Da ist der Fahrradweg.“ Er wies auf eine Lücke im Dickicht. „Den würde ich dir empfehlen, wenn du in die Stadt willst. Damit bist du mindestens doppelt so schnell, als wenn du dich mit dem Auto bringen lässt.“
„Onkel Vincent hat also doch ein Auto“, sagte ich.
Tony lachte. „Du kennst deinen Onkel wohl nicht besonders gut?“
„Mein Vater und er … das ist eine Geschichte für sich.“
Das waren eigentlich Familiengeheimnisse. Meine Mutter wurde jedes Mal halb ohnmächtig, wenn ich etwas ausplauderte, was niemand wissen durfte, weil es uns in ein schlechtes Licht rücken könnte. Vielleicht hätte ich noch mehr verraten, denn Tony hatte
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