Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
so etwas an sich, was es einem leicht gemacht hätte, ihm das eigene Tagebuch vorzulesen. Doch gerade jetzt bog er ab und fuhr durch ein großes, schmiedeeisernes Tor, das lautlos vor uns aufschwang. Ich riss die Augen auf, denn der Anblick verschlug mir den Atem.
Onkel Vincent wohnte nicht etwa in einer Hütte im Wald. Auch nicht in einem Haus. Es eine Villa zu nennen, war noch untertrieben. Das hier war eher ein Schloss - ein gewaltiges, altertümliches Gebäude mit einem hohen Turm. Auf der kiesbedeckten Auffahrt umrundeten wir ein üppiges Blumenbeet, und Tony blieb direkt vor der breiten Treppe stehen, die hinauf zur Eingangstür führte.
„Oh“, sagte ich, wider Willen beeindruckt. „Wow.“
„Willkommen bei Riebeck von Riebeck und Meyrink “, sagte Tony, als würde er seinen Privatbesitz vorführen. „Nicht schlecht, was?“
Ich versuchte damit aufzuhören, ein dummes Gesicht zu machen, was mir leider nicht gelang. Am liebsten hätte ich mich ganz klein gemacht und wäre wieder zurückgefahren, doch Tony war bereits ausgestiegen und öffnete mir die Beifahrertür wie einer Lady. Während er den Koffer holte, sah ich mich um. Onkel Vincent hatte tatsächlich ein Auto. Durch die offenen Tore der Garage, die die Ausmaße einer riesigen Scheune besaß, konnte ich die schimmernden Konturen mehrerer Sportwagen erkennen. Ich zählte mindestens acht, da verspürte ich ein Kribbeln.
Jemand beobachtete mich.
Langsam drehte ich mich um. Der Mann oben auf der Treppe hätte auch ein Butler sein können, so still und unbewegt stand er da und musterte mich. Ich erkannte ihn sofort. Nicht nur, weil ich ihn auf ein paar wenigen Fotos gesehen hatte - auf privaten Aufnahmen natürlich, denn in der Öffentlichkeit kam mein kamerascheuer Onkel nicht vor. Nein, sondern weil er fast so aussah wie mein Vater. Aber während das Markenzeichen meines Erzeugers seine düstere, verschlossene Miene war, wohnte auf dem Gesicht dieses Mannes ein strahlendes, einnehmendes Lächeln.
„Du musst Alicia sein“, sagte er.
Eigentlich hatte ich Missbilligung erwartet. Oder sogar erhofft. Ich meine, dies war der Erbonkel, für den ich schon mein ganzes Leben gegen meinen mangelnden Ehrgeiz ankämpfen musste. Er hatte bestimmt mit einem Mädchen gerechnet, das sogar Tony auf Anhieb als Nichte eines Millionärs identifiziert hätte. Mit langen blonden Haaren, die natürlich perfekt frisiert sein mussten, und teuren Markenklamotten. Ganz gewiss nicht mit einem Mädchen in einem zerrissenen schwarzen Spitzenkleid. Statt der Vorzeigetochter eines Staranwalts hatte er eine dunkel gewandete Prinzessin aus dem Mittelalter vor sich, die sich die Haare mit einer Nagelschere schnitt. Weil ich keine Kontaktlinsen vertrug, setzte meine - natürlich schwarz umrandete Brille - einen modernen Akzent. Und auch meine Lieblingstasche, in der ich meine Zeichensachen stets griffbereit hatte und mit der ich sozusagen verwachsen war, passte nicht ins Bild. Diese Tasche, fleckig, mit Filzstiften bemalt und mit Buttons und Anhängern dicht an dicht übersät, war und blieb mein Markenzeichen, dagegen kam meine Mutter genauso wenig an wie gegen meine Vorliebe für schwarze Romantik.
Während mein Onkel mich betrachtete, schlug mein Herz auf einmal schneller. Ich war hier, um ihn zu enttäuschen, damit er mich so schnell wie möglich nach Hause schickte, aber plötzlich und ganz unverhofft wünschte ich mir, dass er mich mochte.
Als Vincent Riebeck die Stufen hinunterschritt, schien Tony noch kleiner zu werden, als er ohnehin schon war.
„Tut mir leid, das hat länger gedauert als geplant …“
Würde er meinetwegen Ärger bekommen? „Der Zug hatte Verspätung“, sagte ich schnell.
Vincent hob ganz leicht die Brauen, eine Geste, die mich erneut an meinen Vater erinnerte, der auch sofort erkennen konnte, ob jemand schwindelte. Sein älterer Bruder stand ihm da wohl in nichts nach - jedenfalls sah ich in seinen Augen, dass er mir nicht glaubte. Bestimmt hatte er bereits im Internet nachgesehen, wann der Zug angekommen war. Doch er bedankte sich freundlich bei Tony, zahlte und das Taxi brauste davon.
Einen Moment lang kam ich mir verloren vor, dann legte Onkel Vincent mir die Hand auf die Schulter. „Hübsches Kleid, wirklich“, sagte er. „Dann komm mal rein, Alicia.“ Zu meiner Erleichterung umarmte er mich nicht, wahrscheinlich fand er, dass wir uns dafür nicht gut genug kannten. Mir sollte das recht sein. In meiner Familie waren wir alle nicht
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