Das Auge von Tibet
klaffender Öffnung dunkles Blut sickerte. Sein linkes Hosenbein war unterhalb des Knies zerrissen, und ihm fehlte ein Schuh.
Shan blickte erneut in das eine Auge, das ihn, ohne zu blinzeln, aus dem zerschmetterten Gesicht des Kindes anstarrte. Dann sah er auf seine Hände. Sie waren über und über mit dem Blut des Jungen bedeckt. Einen Moment lang wurde er von der eigenen Hilflosigkeit übermannt und beobachtete einfach nur, wie das Blut von seinen Fingerspitzen auf die braunen Grashalme tropfte.
Schließlich tauchte Lokesh neben ihm auf. Der alte Tibeter hatte einen der Schnürbeutel mitgebracht, in denen ihre Vorräte verstaut waren. Er holte daraus eine Plastikflasche mit Wasser hervor, hielt sie dem Jungen an den Mund und stimmte einen leisen, eintönigen Singsang an, dessen Silben Shan nicht vertraut waren. Bevor man ihn aus seinem gompa , seinem Kloster, in den Dienst des Dalai Lama nach Lhasa berufen hatte, war Lokesh bei einem Lama-Heiler in die Lehre gegangen. Während der Jahrzehnte im Straflager hatte er seine Ausbildung fortgesetzt, indem er andere Häftlinge behandelt und immer neue Kenntnisse von den alten Heilern erworben hatte, die gelegentlich hinter Gittern landeten, wenn sie andere Tibeter ermutigten, ihre Traditionen zu ehren.
Lokesh nickte der Frau zu, ohne die Litanei zu unterbrechen. Allmählich schienen seine Worte sie wieder ins Bewußtsein zurückzurufen. Als ihr Blick sich belebte und sie dem alten Tibeter ein gequältes Lächeln zuwarf, beugte Lokesh sich zu Shan herüber. »Ihr Handgelenk ist gebrochen«, sagte er leise. »Sie braucht Tee.«
Unterdessen hatte Jowa dafür gesorgt, daß Gendun neben dem Lastwagen im Gras Platz genommen hatte. Nun eilte er mit einem rußbeschmutzten Topf und einem in Leinen gewickelten Dungfladen herbei und entzündete daraus ein Feuer. Als der Topf auf den kleinen blauen Flammen stand, blickte Lokesh erwartungsvoll auf, und Jowa bedeutete Shan, ihm bei der größeren Decke zur Hand zu gehen. Vorsichtig befreiten sie die Frau aus ihrer mißlichen Lage. Dann folgte Shan dem Beispiel des Fahrers, stellte seinen Fuß auf eine der Kanten des langen Filzrechtecks und hob die gegenüberliegende Ecke an, so daß aus der Decke ein Windschutz entstand, wie Lokesh ihn benötigte, um das Kind genauer untersuchen zu können. Der alte Tibeter brach das heilende Mantra ab, nahm den linken Arm des Jungen, legte ihm die mittleren drei Finger seiner langen knochigen Hand auf das Handgelenk und schloß die Augen. So lauschte er mehr als eine Minute, ließ dann den Arm des Kindes sinken und wiederholte die Prozedur auf der rechten Seite. Sein Ziel war, die zwölf Pulse zu finden, auf denen in der tibetischen Medizin jede Diagnose basierte. Zum Abschluß betastete er zwischen Daumen und Zeigefinger das Ohrläppchen des Kleinen, schloß abermals die Augen und nickte langsam.
Der Junge sah ihm lediglich dabei zu, ohne zu blinzeln, ohne zu sprechen oder in irgendeiner Form den Schmerz auszudrücken, der ihn peinigte. Der Nomade kniete schweigend neben ihm; über sein dunkles, ledriges Gesicht rannen Tränen.
Lokesh beendete die Untersuchung und warf dem Jungen einen bekümmerten Blick zu. Als würde ihm nachträglich noch etwas einfallen, hob er langsam das zerrissene Hosenbein des Kindes an und betrachtete die Haut darunter. Der Hieb mit der Klinge hatte anscheinend nur den Stoff zerfetzt, aber das Bein nicht berührt.
»Wir dürfen nicht hier draußen bleiben«, warnte Jowa und sah sich nervös auf dem Pfad um.
»Es hätte uns alle das Leben kosten können«, sagte der Nomade mit hohler Stimme. »Es war der wandelnde Tod.«
»Du hast es gesehen?« fragte Shan.
»Ich habe die Schafe von der Weide geholt, und meine Frau hat das Lager aufgeschlagen. Als ich dort ankam, hörte ich auf einem unterhalb gelegenen Sims die Hunde bellen. Ich nahm eine Fackel und folgte dem Geräusch. Einer der Hunde war tot. Dann habe ich die beiden gefunden. Im ersten Moment dachte ich, sie wären ebenfalls tot.«
Jowa brachte der Frau einen Becher Tee. Sie schlug die Augen auf, hob die rechte Hand und verzog vor Schmerz das Gesicht. Jowa hielt ihr das Gefäß an den Mund und ließ sie trinken.
»Tujaychay«, sagte sie mit heiserer Stimme. Danke. Dann nahm sie den Becher mit ihrer unverletzten Hand und leerte ihn.
»Der Junge sollte von einer Quelle unten am Weg Wasser holen«, sagte sie, und ihre Stimme klang nun kräftiger. »Er hätte schon längst wieder da sein müssen. Ich konnte
Weitere Kostenlose Bücher