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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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haben ihn uns weggenommen.
    Gendun kniete sich neben den Jungen und nahm seine Hand. Dann kam Lokesh an seine Seite, und Gendun legte ihm die andere Hand auf den Kopf und segnete den Heiler.
    Schweigend musterte der Lama das Kind eine geraume Weile, derweil Shan begann, die Wunden zu waschen.
    »Ich habe keine Gebete für den Gott dieses Jungen«, sagte Gendun schließlich mild und entschuldigend zu der Frau.
    Sie warf ihrem Mann einen ängstlichen Blick zu. »Wir lehren ihn unsere Überzeugungen. Er hat eine mala .« Mit großer Anstrengung und unter offensichtlichen Schmerzen beugte sie sich vor und schob den Ärmel des Jungen nach oben. Verwirrt starrte sie auf sein nacktes Handgelenk. »Sie ist weg. Das Ungeheuer hat seine Gebetskette genommen.« Beschämt wich sie den Augen des Lama aus. »Es war sein Wunsch, nach den Lehren Buddhas zu leben.«
    »Aber betet er noch in Richtung Sonnenuntergang?« fragte Gendun.
    Die Frau sah zu Boden, als erfülle das Gespräch sie mit Furcht. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Er hat gesagt, jener Gott habe den Tod seines Clans zugelassen.«
    Shan war verblüfft. Der Junge war ein Moslem. Aber woran hatte Gendun das erkannt?
    Anstatt den Kopf des Kindes zu berühren, hob Gendun nun sanft dessen Handrücken an seine eigene Wange. »Welcher Gott auch immer im Herzen dieses Jungen wohnt, ich werde dafür beten, er möge ihm Kraft geben, um den Schmerz der Gegenwart und Vergangenheit zu bewältigen, und Weisheit, um den vor ihm liegenden Pfad zu erkennen.«
    Die folgende Stille wurde durch das Krächzen eines Raben unterbrochen. Als sie sich umwandten, sahen sie ihn oben auf dem Felsen sitzen. Der Vogel ließ die Menschen nicht aus den Augen. Der Nomade trat einen Schritt vor, als wolle er etwas zu dem Tier sagen, schaute dann jedoch zurück zu Gendun und blieb stumm, als könne der Lama damit nicht einverstanden sein.
    »Wir müssen aufbrechen«, sagte Jowa stockend und mit einem unschlüssigen Blick auf den Nomaden. »Nach Norden. Ins Kunlun-Gebirge.«
    »Diese Leute brauchen Hilfe«, protestierte Shan.
    »Ja, geht nach Norden«, sagte der dropka und nickte energisch. »Wir haben von den Morden gehört. Deshalb sind wir ja über die Berge geflohen. Es hieß, ihr würdet dorthin reisen, um die Kinder zu retten.«
    Jowa war die Ungeduld deutlich anzumerken. Shan begriff, was in ihm vorging. Der Fahrer wußte, daß die dropkas in diesem entlegenen Winkel Tibets in einer Welt des Aberglaubens lebten, die sich nur wenig von der Zeit vor dem Buddhismus unterschied, als noch Schamanen das Land regiert hatten. Dem Jungen war etwas Schreckliches zugestoßen, aber solche Leute würden sogar hinter einem Steinschlag einen wütenden Dämon vermuten, und eine menschenähnliche Gestalt mit Fell konnte sich leicht als Wolf oder Leopard herausstellen. »Wir müssen uns um die getötete Lehrerin kümmern«, sagte Jowa.
    Der Nomade nickte erneut. »Um Lau«, sagte er. »Unser Alta ist einer ihrer Schüler.«
    Lokesh zuckte zusammen und sah Gendun an. »Lau war die Lehrerin dieses Jungen?« fragte der Lama.
    »Er gehörte zur zheli .« Der Mann nickte. »Lau hat uns mit ihm bekannt gemacht, als wir sagten, wir wollten den Kindern helfen.« Bei diesen Worten sah der Nomade den Jungen an.
    »Die zheli ?« fragte Shan. Es war kein tibetisches Wort, obwohl der Nomade ansonsten tibetisch sprach.
    Doch der Mann schien ihn nicht gehört zu haben. Lokesh seufzte und flößte dem Jungen mehr Tee ein. Dann trug er das Kind an einen windgeschützten Fleck bei den Felsen, der von der Sonne beschienen wurde. Dort lauschte der alte Tibeter abermals dem Herzen, der Schulter und dem Hals des Kleinen und schüttelte zuletzt den Kopf. In seinen Augen standen Tränen.
    Wortlos und hilflos saßen sie da, während das Licht im Auge des Jungen immer schwächer wurde. Einen schrecklichen Moment lang lag furchtbare Angst in seinem Blick, als sei ihm plötzlich sein Schicksal doch noch bewußt geworden. Er stieß ein Geräusch aus, eine einzige Silbe und dann nichts mehr. Es war womöglich der Anfang einer Frage oder eines Gebets. Vielleicht war es auch nur ein Ausdruck seiner Schmerzen. Aber es kam nichts hinterher, als habe die Anstrengung den letzten Rest seiner Kräfte aufgezehrt. Weinend drückte die Frau die Hand des Kleinen an ihre Wange.
    Shan kniete neben Alta nieder und beugte sich vor, um irgendwie Trost zu spenden. Doch kurz darauf wich er wieder zurück. Er bekam kein Wort über die Lippen und war wie

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