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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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auf, um seinen alten Freund zu packen, der nicht einmal zu bemerken schien, daß Shan seinen Arm nahm. Der alte Tibeter blinzelte kopfschüttelnd und behielt den Blick unverwandt auf den Reiter gerichtet, der vom anderen Ende des Tals herannahte.
    »Geschieht das wirklich?« fragte Lokesh zögernd, als würde er seinen Augen nicht trauen. Am Vortag hatten sie auf dem Kamm eines Hügels eine große Schildkröte erspäht, was als gutes Omen galt. Lokesh wollte ihr unbedingt ein Opfer darbringen und mußte sich später entschuldigen, denn als sie das vermeintliche Tier endlich erreichten, hatte es sich bereits wieder in einen Felsen verwandelt.
    »Die Gestalt ist von dieser Welt«, bestätigte Shan und sah ebenfalls zum Horizont.
    »Der Reiter hat Angst«, sagte Jowa hinter ihnen. »Er schaut immer wieder über die Schulter zurück.«
    Shan wandte den Kopf und sah, daß er ihr abgewetztes Fernglas hervorgeholt und auf den Fremden gerichtet hatte. »Wenn er so weitermacht, ist das Pferd bald tot.«
    Der Tibeter sah wieder seine Gefährten an und schüttelte den Kopf. »Jemand ist hinter ihm her«, sagte er beunruhigt und reichte das Fernglas an Shan weiter.
    Shan erkannte, daß der Reiter eine dunkle chuba , trug, den schweren Schaffellmantel der dropkas , der Nomaden, die das ausgedehnte Hochland im Nordwesten Tibets durchstreiften. Die Staubwolke hinter dem Pferd des Nomaden war so undurchdringlich, daß Shan keinen Hinweis auf einen Verfolger ausmachen konnte. Er suchte die Landschaft ab. In drei Richtungen ragten meilenweit nur schneebedeckte Gipfel in den klaren blauen Himmel empor und beschatteten die zerklüfteten grasbedeckten Hügel am gegenüberliegenden Ende des Tals. Weder auf der langgezogenen, vom trockenen Herbstgras braunen Ebene, die sich unterhalb von ihnen erstreckte, noch auf dem schmalen, ungepflasterten Pfad, den sie in der Morgendämmerung verlassen hatten, war außer dem einzelnen Reiter irgendein Lebenszeichen zu entdecken.
    Shan blickte nach unten auf ihren verbeulten alten Lastwagen der Marke Jiefang, der etwa dreißig Meter abseits des Weges hinter einem großen Felsen versteckt stand, gab dann das Fernglas zurück und trat in den Schatten des Überhangs, unter dem sie nach ihrer nächtlichen Fahrt Zuflucht gesucht hatten.
    Nach drei Metern, an der dunkelsten Stelle des Lagers, ließ Shan sich auf die Knie nieder. Neben der Asche des kleinen Feuers, in dem sie sich als einzige warme Mahlzeit des Tages Gerstenmehl geröstet hatten, steckte in einem winzigen Steinhaufen ein einsames Weihrauchstäbchen, und auf einer gefalteten Decke aus Yakfilz verharrte schweigend im Lotussitz ein Mann in einer kastanienbraunen Robe. Sein graues Haar war kurz geschoren, und sein schmales Gesicht wäre vielen Betrachtern vermutlich alt vorgekommen. Shan hingegen fiel beim Gedanken an Gendun niemals das Wort »alt« ein, so wie er auch nie auf die Idee gekommen wäre, die Berge als »alt« zu bezeichnen.
    Der Lama hatte die Augen fast vollständig geschlossen und befand sich in einem Zustand, der für ihn dem Schlaf am nächsten kam. Während der Nacht, wenn sie in dem alten Lastwagen unterwegs waren, lehnte Gendun es rundheraus ab, sich zur Ruhe zu begeben, und auch bei Tag, wenn seine drei Begleiter rasteten, legte er sich nicht zum Schlafen nieder, sondern versank lediglich in tiefer Meditation.
    »Rinpoche«, flüsterte Shan und sprach ihn damit als ehrwürdigen Lehrer an. »Wir müssen vielleicht vorzeitig aufbrechen. Es gibt Schwierigkeiten.«
    Gendun ließ durch nichts erkennen, ob er ihn gehört hatte.
    Shan schaute zu Jowa, der mit dem Fernglas abermals die Gegend hinter dem Reiter absuchte, und wandte sich dann wieder Gendun zu. Erst da bemerkte er, daß der Lama mit seinen Fingern ein mudra gebildet hatte, eines der Symbole zur Konzentration der inneren Kraft und gleichzeitig ein Ausdruck der Verehrung Buddhas. Die Handgelenke lagen über Kreuz, die Handteller wiesen nach außen, und die kleinen Finger waren verschränkt, um die Form einer Kette anzudeuten. Es war ein ungewöhnliches mudra , das Shan bei Gendun noch nie zuvor gesehen hatte. Der Name des Symbols lautete Seelenbezwinger. Shan erschauderte kurz und erhob sich dann, um wieder an Jowas Seite zu treten.
    Der junge Tibeter blickte den Abhang hinauf, der hinter ihnen lag, als suche er nach einer Möglichkeit, den Berg hinaufzuklettern. Sie wußten beide, daß es für die Angst des Reiters wahrscheinlich eine ganz bestimmte Erklärung gab. Shan

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