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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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meines Blutes,
jede Minute, die mir noch zu leben bleibt, gehört Euch. Ich bitte Euch um Vergebung
und um die Gnade, am Ende doch noch Euer treuer Diener sein zu dürfen.«
Seine Stimme brach und er verstummte. Sie streckte dem alten Mann ihre Hand
entgegen. Er küsste sie inbrünstig.
    »Ja, ich vergebe Ihnen, Graf. Aber nun stehen Sie auf und tun Sie, was Mr Taylor
Ihnen sagt.« »Dann sind Sie also der General?«, wandte Otto sich freundschaftlich
an Jim, und als er den goldenen Orden am grünen Band sah, fügte er hinzu: »Meinen
Glückwunsch, Baron.«
    »Danke,
Graf.
Aber sind
Sie
zum
Reden
oder
zum
Kämpfen
hergekommen?«,
stichelte Jim. »Zum Kämpfen. Reden können wir später, beim Frühstück. Wie viele
seid ihr?«
»Sechs Mann. Ein Gewehr, sechs Pistolen. So sieht es aus. Wenn wir keine Munition
mehr haben, werfen wir Steine.«
    Otto blickte sich um. Becky, die ihn von ihrem Platz in einer Mauerecke aus
betrachtete,
war
immer noch
unschlüssig
über
sein
wahres
Wesen:
Er
schien
zwischen
dem
neunzehnten
und
dem
dreizehnten
Jahrhundert
hinund
herzuhuschen, Otto und Walter, Luft und Schnee.
»Nun
gut«, sagte er schließlich und
wandte sich wieder an Jim. »Da
Sie das
    Kommando haben, Baron, stelle ich Ihnen zwei Dutzend Männer, alle mit Gewehren
bewaffnet,
zur
Verfügung,
dazu
mich
selbst
und
meine
Armbrust.
Wie
viele
Patronen haben Sie?« »Sechs, mehr nicht.« »Dann nehmen Sie das.«
Otto zog sein Schwert aus der Scheide und reichte es ihm.
     
Jim nahm es entgegen, grüßte militärisch und hielt den Schwertgriff in ritterlicher
Art gegen seine Stirn, ehe er es in den Gürtel steckte.
     
»Wir freuen uns alle auf dieses Frühstück«, scherzte Jim.
    Und Becky sah, wie sich Jim in einen General verwandelte. Als wäre er dazu
geboren, stellte er die Männer in der Ruine auf: den einen in sicherem Versteck,
zwei andere als Reserve im Hinterhalt, das Gros in der Mitte hinter der niedrigen
Mauer vor der Fahne. Otto stand aufmerksam beobachtend daneben und nickte.
»Und die Königin?«, fragte Otto zum Schluss. »Ich bleibe bei der Fahne«, verkündete
sie. »Dann ziehen Sie den Kopf ein, verehrte Cousine. Aber das kleine Mädchen dort
muss sich im Bergfried verstecken.«
    Becky war zu schwach, um zu protestieren: das kleine Mädchen ... Doch Graf Otto
hob sie hoch, als wäre sie ein Baby, und bettete sie hinter den Schutthaufen in der
Türöffnung.
»Schießt nicht eher, als ich den Befehl gebe«, schärfte Jim allen ein.
    Das war der letzte klare Augenblick für Becky. Eine tiefe Stille herrschte, in der
Schneeflocken so dicht in alle Richtungen wirbelten, dass es mehr Schnee als Luft zu
geben
schien
und
auch
die nahen
Gestalten
in
gespensterhaftes
Grau
gehüllt
wurden.
    Dann ertönte ein Knall wie von einem Böller, der am Silvesterabend in einem Garten
losgelassen wurde und den ein Kind in der warmen Stube hinter vorgezogenen
Vorhängen hört - das dichte Schneetreiben hatte den Schuss gedämpft. Dann noch
ein Schuss und noch einer; kleine Explosionen, die so harmlos klangen, als ob sie nur
einen Funkenregen hervorbrachten. Doch jeder Knall schickte eine Kugel durch die
Luft, und jede Kugel preschte dem Knall voraus wie ein Falke, der sich von der Hand
des Falkners löst. Die Kugeln schnitten durch Luft und Schneeflocken, zogen unsichtbare Hitzewirbel hinter sich her, die den Schnee hierhin und dorthin warfen, und das
lange nachdem sie an Steinen abgeprallt oder sich in den gefrorenen Boden gebohrt
hatten.
Trotz des brennenden Schmerzes in der Brust und der Kälte im Kopf nahm Becky
einen Wirbel von Bildsplittern wahr, als wäre ein Mosaik auseinander gebrochen.
Gewiss war es einmal ein Ganzes, und sicher würde es sich erneut zusammensetzen,
aber im Augenblick ergab es kein vollständiges Bild.
    Sie sah einen springenden Schützen, wie ein Jäger ganz in Grün gekleidet, der sich
hinter eine niedrige Mauer kniete, sein Gewehr in Anschlag brachte und in das weiße Gestöber zielte.
Sie hörte das Jaulen einer Kugel, die an einem Felsen abprallte.
     
Sie sah zwei Gestalten in langen Mänteln, die Gewehre als Stock oder Krücke
benutzend, durch knietiefen Schnee stapften.
    Sie sah, wie sich die altehrwürdige Fahne, von einer Brise ergriffen, in die Luft hob,
und sie sah, wie Adelaide zu ihr emporschaute gleich einem Kind, das stolz auf seine
Eltern ist.
    Sie hörte den Klang sich kreuzender Klingen, Stahl auf Stahl, ein Keuchen, wieder
Waffengeklirr, halb Schrei, halb Ächzen, Waffengeklirr, Keuchen.

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