Das Banner des Roten Adlers
worauf
die vier Träger ihre Stangen an die Ausgeruhten gaben. Jim betrachtete Adelaide. Sie
hielt den Kopf gesenkt, ihr Mantel schleifte im Schnee, der Spitzensaum ihres
Nachthemds war schmutzig und zerrissen, aber sie hielt die Fahne mit festen Armen
an der Brust. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
Sie hob den Kopf. Im Zwielicht der Morgendämmerung, wenn die ganze Welt grau
wird, glomm ein Feuer in ihren dunklen, Leidenschaft verratenden Augen. »Ja«,
sagte sie leise. »Wie weit noch?« »Keine Ahnung. Es dürfte nicht mehr weit sein.« Er
nahm
sie
bei
der
Hand
und
half
ihr
bei
den
letzten
Schritten
über
den
schneebedeckten Hang. Dann wichen die Bäume vor ihnen. Sie standen am Rand
des
Waldes
und
blickten
auf
eine zerklüftete Bergkulisse.
Am
Himmel
hingen
schwere Schneewolken
in
einem
metallischen
Graublau.
Vor
ihnen,
auf
einer
leichten Anhöhe lag die Ruine der Burg Wendelstein, die Adelaide zuletzt im Licht
eines warmen Herbstnachmittags gesehen hatte. Der Ort sah jetzt noch verlassener
aus; der Bergfried ragte wie ein einzelner hohler Zahn in den Himmel, die Reste der
Wehrmauern hoben sich wirr unter dem jungfräulichen Schnee ab.
Links führte ein Pfad von der Burg hinunter in den Wald Richtung Stadt. Dunkelheit
hing schwer zwischen den Zweigen. Die Welt war in Stille gehüllt. Nachdem die
kleine Schar das Gelände ausgespäht hatte, stapfte sie durch den Schnee. Der Weg
war nun weniger beschwerlich, aber es war auch kälter und sie kamen nur mühsam
voran, denn der Schnee lag knietief. Becky war aufgewacht und hatte gebeten,
aufgesetzt zu werden. Karl stützte sie, als die Träger weitergingen. Alle brauchten
fast zehn Minuten für die kaum vierhundert Schritte bis zur ersten Mauerruine. Der
Bergfried bot keine Zuflucht mehr, denn er war hohl. Das Dach war eingestürzt, der
Boden mit einem Haufen Schutt bedeckt und mit allerlei Gestrüpp überwuchert.
Adelaide sah sich um. Auch hier war sie unbestritten die Königin, die entschied, was
zu tun war. »Nehmt eine von den Stangen, mit denen ihr Becky getragen habt.
Befestigt die Fahne daran und dann pflanzt sie über den Trümmern dort auf. Mir
wird
es
wohler,
wenn
ich
sie erst
wieder wehen
sehe.«
Es
gab
nichts
zum
Festbinden, bis Jim einfiel, dass er noch ein Knäuel Wolle hatte. Der Unteroffizier
hob die Augenbrauen beim Anblick des unsoldatischen Stoffs, doch ließ sich die
Fahne damit gut festbinden. Freilich wehte sie nicht, sondern hing nur schlaff in der
stillen Luft; ein Zipfel schleifte sogar über den Schnee. Jim und Gustav banden die
eine Stange mit Fäden, die sie von der Decke abgerissen hatten, an die andere, und
so wurde die Fahne immerhin über dem Boden gehalten. Es war wichtig, sich warm
zu halten. Jim zitterte heftig, seit der Flucht aus dem Gefängnis musste er ohne seinen
Seemannspullover auskommen,
und
auch
Adelaide
fror
trotz
des
dicken
Mantels. Jim riet ihr, sich neben Becky zu setzen und sich aneinander zu wärmen. Da
salutierte Unteroffizier Kogler und sagte verlegen: »Verzeihung, Majestät. Eigentlich
sollte ich es Ihnen nicht sagen, aber ich habe etwas Unerlaubtes getan. Es ist so kalt
dort oben auf dem Felsen, dass wir beim Wacheschieben manchmal einen Schluck
zu uns nehmen. Unter normalen Umständen müssten Sie mich deswegen vor ein
Militärgericht stellen. Aber ich habe noch nicht daran genippt, und wenn es Ihnen
oder dem Fräulein hilft, sich vor der Kälte zu schützen, dann probieren Sie doch bitte
...«
Und damit holte er einen Flachmann aus seiner Brusttasche und schraubte den
Verschluss auf. »Zwetschgenschnaps«, sagte er. »Meine Großmutter brennt ihn
daheim in Erolstein. Einen besseren finden Sie nirgends.«
Adelaide sah ihn streng an. Es wurde zunehmend heller, sie war mehr oder weniger
deutlich zu erkennen.
»Sie sind ein schlechter Mann«, befand sie. »Geben Sie ihn her. Ich darf nicht
zulassen, dass meine Soldaten beim Wacheschieben trinken. Ich bin entsetzt.« Sie
nippte an der Flasche, kniff die Augen zusammen, atmete tief durch und nahm
mehrere Schlucke. »Aber ich lasse Gnade vor Recht walten. Und sagen Sie Ihrer
Großmutter, dass ich ihr eine königliche Lizenz gewähre. Becky, nimm auch einen
Schluck.« Sie hielt Becky den Flachmann an die Lippen. Als Becky sich bewegte,
schrie sie vor Schmerz auf, und Adelaide fragte sie, ob sie sich wieder hinlegen
wolle. »Du kannst die Decke haben«, schlug sie Becky vor. »Mir ist so warm genug
...«
Doch Becky schüttelte den Kopf. Adelaide kuschelte sich an
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