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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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»Lasst mich hier. Ich kann mich ja verstecken.«
    »Red doch keinen Unfug!«, brauste Adelaide auf. »Du glaubst doch wohl nicht, dass
ich irgendjemanden zurücklasse? Das kommt überhaupt nicht in Frage.« Und zu den
Studenten gewandt: »Holt ein paar Decken aus dem Wagen, rasch! Wir bauen eine
Trage.« Karl und zwei andere kletterten noch einmal in den Wagen, während Jim
und Unteroffizier Kogler schnell ein paar Bäumchen herbeischafften und die Zweige
entfernten.
    Wenig später lag Becky auf einer Decke, deren vier Zipfel zwischen zwei Holmen
gespannt waren. Es tat ihr scheußlich weh, und als die vier Träger den Berghang
hinaufzustapfen begannen, musste sie sich sehr zusammennehmen, um nicht vor
Schmerz zu schreien. Aber sie kam voran, die kleine Schar, und schon bald hatte sie
die Eisenbahnlinie hinter sich und drang in dichten Wald ein. Jim schaute zurück; er
sah den Feuerschein der brennenden Lokomotive und horchte, ob der andere Zug
näher kam. Er hörte ihn nun deutlicher. Offenbar fuhr er langsamer, was entweder
bedeutete, dass man den entgleisten Zug schon gesehen hatte oder man sich auf
seinen Anblick gefasst machte; das wiederum bedeutete, dass jemand sie gewarnt
haben musste. Schweigner ... Er zuckte nur mit den Schultern. »Wie weit ist es bis
zur Burg?«, fragte er Karl. »Sie steht oben auf der Bergkuppe. Wir sind auf dem
richtigen Weg.«
»Wenn es nur ein richtiger Weg wäre! Das ist ein scheußliches Gelände. Ihr vier!
Sollen wir euch mal ablösen?«
     
Die vier Träger waren froh, die Stangen der Behelfsbahre an Jim, Karl, Gustav und
den Unteroffizier abzugeben.
     
Becky war still, obgleich Jim ein kaum vernehmliches Stöhnen hörte. Es schien ihr
das Herz aus dem Leib zu reißen.
    »Es dauert nicht mehr lange, mein gutes Mädchen«, sagte er zu ihr, wohl wissend,
dass
er
sie
anlog.
Und
sie quälten
sich
weiter
vorwärts,
über
Felsen
und
Baumstümpfe, durch schneeverdeckte Gruben und rutschiges vereistes Moos, jeder
den Blick auf den Boden vor sich geheftet. Außer grauen und schwarzen Schatten
konnten sie freilich nichts erkennen. Bald tat Jim das Knie weh, das er sich vor
Jahren verletzt hatte, doch er ging trotz pochender Schmerzen weiter, die Schuhe
voll Schnee, das Gesicht dornenzerkratzt. Unmittelbar vor ihm ging Adelaide, die
Fahne an die Brust gedrückt, und murmelte ein paar wohl bedachte Flüche vor sich
hin.
    Dann stiegen von unten plötzlich andere Zuggeräusche zu ihnen auf. Obwohl die
Bäume die Geräusche dämpften, war ein fernes Quietschen, ein lang anhaltendes Zischen so deutlich zu hören, dass die Lauschenden den Zug zu sehen glaubten.
»Sie sind an der Unglücksstelle angekommen«, sagte Karl.
     
»Dann müssen wir weiter«, entschied Jim und stapften weiter durch den Schnee.
    Die arme Becky schien wieder das Bewusstsein verloren zu haben, denn aus der
Trage kam kein Laut. Jim nahm es düster zur Kenntnis. Wahrscheinlich war es
gefährlich, sie so durch die Gegend zu tragen; eine gebrochene Rippe konnte ihr die
Lunge durchbohren; und das zeigte nur im Kleinen, wie die Lage im Ganzen war. Er
war sich ziemlich sicher, dass sie aus dem Schlamassel nicht lebend herauskommen
würden, in diesem vergessenen Winkel Europas, wo sie einen Kampf ohne Aussicht
auf Erfolg führten. Dan Goldberg hatte Recht: Deutschland würde sich Raskawien
einverleiben, und wenn nicht Deutschland, dann Österreich-Ungarn. Und wer die
Kette von Ursache und Wirkung genau genug zurückverfolgen könnte, würde bis
zum Ursprung gelangen, und der konnte tausend Kilometer entfernt und viele Jahre
zurück in den Kalkulationen eines Finanziers oder in der Kindheit eines enttäuschten
Fürsten liegen. Vermutlich gab es tausende solcher Ketten, und wenn eine davon
gerissen wäre oder sich verschlungen hätte, sähe das Ergebnis ganz anders aus. Die
Dinge hatten kein geheimes Muster, keinen verborgenen Sinn; alles war und blieb
letztlich nur Zufall und Chaos.
    Und
damit
war
Jim
wieder bei
ihrer
kleinen
Schar,
die darum
kämpfte,
ein
rechteckiges Seidentuch auf einem Trümmerhaufen aufzupflanzen, und dafür ihr
Leben opferte. Da es im Großen keinen Sinn gab, war das nicht sinnloser als alles
andere auch. Der Anstieg wurde nun etwas leichter. Der Wald lichtete sich vor
ihnen; der Himmel war zwar immer noch dunkel, aber irgendetwas in der Luft
verriet die nahende Morgendämmerung: eine frische Brise. Dabei war es bitterkalt.
Jim spürte den Schweiß kühl auf der Stirn. »Neuer Wechsel«, sagte jemand,

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