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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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sie.
    »Haben Sie nicht zufällig eine Dauerwurst in Ihrer Tasche?«, fragte Gustav. »Das war
doch was. Eine Salami mit Fettstückchen wie Perlen und gut gepfeffert ...« »Nicht
für mich«, sagte Karl. »Lieber einen Kuchen. Apfelstrudel zum Beispiel, mit Zimt und
Zucker
und
obendrauf
ein
kräftiger
Klacks
Sahne.«
»Viel
zu
süß«,
meinte ein
anderer. »Für mich ein Fleischgericht. Ein Wildgulasch - von einem Stück, das
vierzehn Tage in der Beize gelegen hat - mit Zwiebeln, Knoblauch, Paprika und
saurer Sahne, dazu Kartoffelklöße ...«
»Nein, ihr täuscht euch alle«, widersprach ein Vierter. »Das Beste ist immer noch
Brot, frisch gebackenes Brot.
    Wenn man die Kruste abbricht, dampft es ein bisschen. Und wenn man es zum
Mund führt und -«
»Schluss damit«, sagte Adelaide. »Wörter kann man nicht essen, ihr macht uns nur
noch hungriger. Wie weit ist es bis Andersbad? Nicht mehr als einen Kilometer,
oder? Schicken wir doch jemanden, der Brot kaufen soll, sobald die Bäckereien
öffnen. Und in der Zwischenzeit -«
    Aber eine Zwischenzeit sollte es nicht geben, denn im selben Augenblick hatte
Adelaide am Waldrand sich etwas bewegen sehen, gerade dort, wo sie den Wald
verlassen
hatten.
Die Studenten,
Jim
und
der
Unteroffizier bemerkten
ihre
veränderte Miene und schauten sich um. Dann drückten sie die Schultern durch und
stellten sich enger zusammen. Adelaide erhob sich und fasste mit einer Hand die
Fahnenstange. Becky, in die Decke gehüllt, wünschte sich, mit ihnen stehen zu
können -sie hatte es versucht, aber schaffte es nicht - und die Fahne gegen die
feldgrauen deutschen Soldaten zu verteidigen, die nun, das Gewehr vor der Brust,
einer nach dem anderen unter den Bäumen hervortraten und sie vorrückten.
Neunzehn Geister
    Die erste Schneeflocke fiel auf Beckys Wimpern. Sie zwinkerte, doch gleich darauf
folgten weitere. Der Himmel war jetzt so hell, dass sich die großen Flocken dunkel
abhoben, wenn man aufschaute. Die Armee, die unter den Bäumen hervorkam - es
waren hundert oder mehr -, wirkte geisterhaft im Schneegestöber, das sie wie ein
Schleier aus Millionen Federn einhüllte. Becky war, als träumte sie oder hätte
Visionen. Diese Welt aus Schnee - in Weiß und Grau - wogte und wirbelte, und
Gestalten aus anderen Sphären schritten durch sie hindurch, wurden sichtbar und
verschwanden wieder. Hier hatte Walter von Eschten gekämpft und da stand er,
eine hünenhafte Gestalt mit seinen federgeschmückten Rittern, nach all den Jahren.
Becky war über die Maßen stolz, dass diese Männer ihnen zu Hilfe gekommen
waren. Denn da waren weitere Gestalten, die durch die Ruinen huschten und aus
dem weißen Gestöber auftauchten; auch Jim und die anderen hatten sie bemerkt
und betrachteten sie staunend. Becky starrte sie an, und das Herz schlug ihr wie ein
    Schmiedehammer gegen die schmerzenden Rippen, als sich der anführende Geist
Adelaide näherte. Er blieb erst stehen, als ihm Jim mit gezogenen Revolver in den
Weg trat.
    »Der Engländer«, ließ sich eine tiefe, dröhnende Stimme vernehmen, in die sich
Lachen
mischte,
eine
Stimme,
die alles
andere
als
geisterhaft
war:
Otto
von
Schwartzberg.
    Becky wischte sich die Schneeflocken von den Augen, sah angestrengt hin und
spitzte die Ohren. Ihr schien es, als streckte Adelaide ihre Hand aus und der Hüne
kniete nieder und küsste sie.
    »Mein Vetter«, sagte Adelaide, »ich dachte, Sie seien zur Löwenjagd nach Afrika
gefahren.« »Oh, die sportliche Herausforderung hier ist größer! Ich habe von Ihrem
Coup mit der Fahne gehört - ein toller Streich, sie den Herrschaften vor der Nase
wegzuschnappen!
Und
wohin
hätten
Sie
gehen
sollen,
wenn
nicht
nach
Wendelstein?« »Woher wussten Sie das?«
»Einer Ihrer Gefolgsleute hat es mir erzählt«, sagte Otto und trat beiseite.
    Hinter ihm stand, grau vor Müdigkeit und Schmerz, aber immer noch soldatisch
gerade, Graf Thalgau. Als Adelaide ihn fest anschaute, schlug er die Augen nieder,
dann beugte der alte Haudegen das Knie und nahm den schwarzen Tschako ab.
Schnee fiel in dichten Flocken auf sein eisgraues Haar.
    »Eure Majestät«, sagte er mit tonloser Stimme, »ich habe Unrecht getan. Ich habe
Euch und mein Vaterland verraten. Ich finde keine Worte für meine Scham. Ihr habt
ein besseres Herz als ich. Ihr habt aus Gefühl das Richtige, ich habe das Falsche
getan. Aber ich werde nicht noch einmal fehlen. Vertraut mir nun, Majestät, und ich
werde bis zum letzten Atemzug für Euch kämpfen. Jeder Tropfen

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