Das blaue Mädchen
1
Die Stille war schrecklich. Sie schien von dem Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fiel und sich bunt auf dem hellen Granitboden brach, noch verstärkt zu werden. Keine Bewegung. Kein Laut. Nur die schwere, lastende Stille, die sich über den Raum gelegt hatte wie eine unsichtbare Decke.
Als wäre die Zeit stehen geblieben.
Jana hielt die Luft an. So musste es sein, wenn man aus einem Boot fiel und lautlos niedersank, über sich das Licht und unten die dunkle Tiefe.
Sie erlebte es immer wieder in ihren Träumen. Musste es immer wieder erklären. Obwohl sie lieber nicht darüber geredet hätte. Alles wollten sie wissen. Was war das Besondere an diesem Traum? Was quälte sie darin am meisten?
Und Jana musste Antworten finden.
Nicht das Fallen, nicht das Niedersinken machte ihr in diesen Träumen zu schaffen. Was sie vor allem entsetzte, war die furchtbare Stille.
Aber das hier war kein Traum, es war die Wirklichkeit. Aus den Augenwinkeln beobachtete Jana die anderen. Alle hatten den Kopf gesenkt, genau wie sie. Die Arme waren über der Brust gekreuzt, genau wie ihre.
Nur eine hatte die Arme erhoben. La Lune.
Vor ihr kniete Mara in ihrem schlichten blauen Gewand, die Hände auf dem Boden, ein Opferlamm. Sie kniete reglos und wartete. Und alle warteten mit ihr.
Marlon trieb den Pfahl mit wenigen kräftigen Schlägen in den Boden. Der Regen der vergangenen Tage hatte die Erde aufgeweicht, das erleichterte ihm die Arbeit. Sein Vater saß auf dem Traktor. Er hatte sich halb umgedreht, den rechten Arm über der Lehne des Fahrersitzes, und sah seinem Sohn zu.
Seit einiger Zeit hatte er Probleme mit dem Rücken und konnte nicht mehr so gut arbeiten wie früher. Aber er hielt nicht viel von Ärzten und ging erst hin, wenn er, wie seine Frau es ausdrückte, den Kopf unterm Arm trug. Solange er noch kriechen konnte, würde er keinen Fuß in die Praxis von Doktor Jahn setzen.
Sie hatten erst etwa vierzig Meter geschafft. An die zweihundert lagen noch vor ihnen. Und nirgendwo Schatten, überall pralle Sonne.
Im letzten Sommer hatten sie den Zaun immer wieder flicken müssen, notdürftig, weil kein Geld für einen neuen da war. Beinah jede Woche hatten sie nach Kühen suchen müssen, die ausgerissen waren und sich dann verlaufen hatten. Dabei wuchs ihnen die Arbeit sowieso schon über den Kopf. Auf solche Zwischenfälle konnten sie verzichten.
Die meisten der alten Pfähle waren morsch gewesen. Sie hatten sie entfernt und beim Hof gelagert. Immerhin konnten sie sie wenigstens noch als Brennholz benutzen. Das Holz war teuer geworden. Das ganze Leben war teuer geworden. Man sah es an dem erbärmlichen Zustand des Hauses. Feuchte Wände, ein schadhaftes Dach und tausend andere Stellen, die dringend renoviert werden mussten.
Marlon liebte körperliche Arbeit. Sie war ein guter Ausgleich zu den Stunden in der Schule und zu Hause am Schreibtisch und tat ihm gut. Sein Körper war daran gewöhnt. Es machte ihm nicht viel aus, dass solche Arbeit nicht mehr sehr angesehen war. Bauern wurden immer gebraucht. Ohne Getreide kein Brot und kein Kuchen. Die Menschen tranken weiterhin Milch, aßen Eier, Fleisch und Gemüse. Und trotzdem sahen sie verächtlich auf die Bauern herab, die ihre Grundnahrungsmittel produzierten.
Marlon war bis an den Traktor herangekommen und sein Vater wartete, bis er eine Reihe neuer Pfähle vom Anhänger abgeladen hatte, dann tuckerte er mit dem Traktor ein paar Meter weiter.
Sie unterhielten sich kaum. Hin und wieder ein Wort, knapp, nur das Notwendigste. Marlon war es recht. Er misstraute den Plapperern, die das Herz auf der Zunge trugen. Bei Licht besehen, verloren viele Worte an Gewicht.
Der Schweiß lief ihm über Stirn, Schläfen und Kinn, tropfte auf seine Stiefel. Das Hemd klebte ihm am Körper. Fliegen umsurrten seinen Kopf. Er schlug nach ihnen, vertrieb sie alle paar Sekunden. Ohne Erfolg. Von Jahr zu Jahr wurden sie aggressiver. Neuerdings gab es welche, die richtig bissen. Die Bisse – oder waren es Stiche? – schwollen übel an. Tagelang war die Haut heiß und gerötet und nicht einmal Essigumschläge verschafften Erleichterung. Selbst Marlon, der nicht zu Allergien neigte, hatte nach einem solchen Biss unterhalb des Knöchels neulich einen Tag lang mit hohem Fieber im Bett gelegen.
Er nahm die Kappe ab, wedelte sich ein wenig Luft zu und setzte sie wieder auf. Noch eine Stunde, dann würden sie zum Kaffeetrinken fahren. Seine Mutter hatte Rosinenbrot gebacken. Schon am Morgen
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