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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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kräftigen, braunen Hände und dann die Hände seiner Schwestern, hell und feingliedrig, ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Zwillinge waren richtige Schmarotzer. Nahmen sich von jedem, was sie kriegen konnten, und gaben nur selten etwas zurück, hielten sich abseits, verkapselt in ihrer eingeschworenen Gemeinschaft.
    »Wenn's ihm doch Spaß macht...«, sagte Marlene.
    »...und uns nicht...«, ergänzte Greta.
    Selbst ihre Sätze teilten sie sich mitunter. Als sie noch klein gewesen waren, hatten sie eine eigene Sprache erfunden, die sie noch ab und zu benutzten, seltsam verkürzte Sätze und kompliziert verschlüsselte Wörter, die keiner außer ihnen verstand.
    Marlon nahm sich die vierte Scheibe Rosinenbrot. Er konnte essen, so viel er wollte, es setzte nicht an. Kein Wunder bei seinem Arbeitspensum. Alles, was er zu sich nahm, verwandelte sich in Muskeln. Ein Fitnessstudio hatte er nicht nötig.
    »Hier steht wieder ein Artikel über die Irren drin.« Der Vater faltete verärgert die Zeitung zusammen. »Die reinste Lobeshymne. Wahrscheinlich haben sie inzwischen sogar die Leute von der Presse gekauft.«
    Mit den
Irren
meinte er die Mitglieder der Sekte. Auch ihn hatten sie schon zu kaufen versucht. Sie wollten das Land und den Hof. Einen verführerisch hohen Preis hatten sie geboten, doch der Vater hatte ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Immer wieder machten sie Vorstöße. Aber der Vater blieb hart.
    »Jeder hat seinen Preis«, hatte Heiner Eschen vom Nachbarhof neulich gesagt. Er kam abends hin und wieder vorbei, um mit dem Vater ein Bier zu trinken.
    »Da würd ich meinen Arsch nicht drauf verwetten«, hatte der Vater erwidert. »Es gibt einen Preis, den kann keiner zahlen, nicht mal die da.«
    So bezeichnete er sie am liebsten.
Die da
waren etwas ganz Unbestimmtes, etwas beruhigend Vages. Dadurch verloren sie ihre Bedrohlichkeit.
    Heiner Eschen hatte das Thema gewechselt und der Vater hatte ihm ein neues Bier hingestellt.
    Viele waren schwach geworden. Hatten Land verkauft, mehr Land, noch mehr Land und schließlich sogar ihren Hof. Waren in die Stadt gezogen und hatten den Kindern des Mondes im wahrsten Sinn des Wortes das Feld überlassen.
    Marlon wusste, dass sein Vater nicht käuflich war. Niemals und unter keinen Umständen. Lieber würde er mitsamt seiner Familie verhungern, als
denen da
auch nur einen Misthaufen zu überlassen. Marlon war sich jedoch nicht sicher, ob das auch für ihn selbst galt. Hatte er einen Preis? Wenn ja, wie hoch wäre er?
    Nach dem Kaffeetrinken legte sein Vater sich hin. Sein Rücken brannte, wie er sagte, und Marlon fuhr allein wieder auf die Weide hinaus, um weiter am Zaun zu arbeiten.
    Von weitem sah er das Haus mit den vergitterten Fenstern und er bekam trotz der Hitze eine Gänsehaut.
Strafhaus
nannten sie es. Niemand im Dorf wusste, was dort vor sich ging, aber jeder hatte seine Vorstellungen davon.
    Das Gebäude war im Stil aller Gebäude der Kinder des Mondes gebaut, ebenerdig, mit weichen, abgerundeten Formen. Es schmiegte sich an den Hügel wie ein großes Tier, das nicht entdeckt werden will, und war in diesem kalten, milchigen Weiß verputzt, als schiene mitten am Tag der Mond mit seinem unwirklichen Licht darauf.
    Die Frauen, die darin ein und aus gingen, trugen rote Gewänder, aber es war kein heiteres Rot, es war das erschreckende Rot einer frischen, klaffenden Wunde.
    Plötzlich kam Marlon die Stille des Nachmittags bedrohlich vor. Er stellte sich den ersten Pfahl zurecht und holte weit mit dem Hammer aus. Brach die lähmende Stille mit seinen Schlägen auf.
    Dann, irgendwann, hörte er nur noch, wie der Hammer gleichmäßig auf das Holz traf.
    Plock. Plock. Plock.
    Was gingen ihn diese Verrückten an?

2
    Jana entschied sich für Hose und Bluse. Das Gewand war nicht Vorschrift, obwohl einige es immerzu trugen. Nur an den Mondtagen und bei Veranstaltungen war es Pflicht, das Gewand anzuziehen.
    Die Mondtage waren das, was in der Welt draußen die Sonntage waren. Die Welt draußen war eine verkehrte Welt, sagte La Lune. Eine gesetzlose Welt ohne Moral. Viele der Regeln, die man sich dort geschaffen hatte, konnten mit Phantasie und Geschick beliebig umgangen, sogar gebrochen werden.
    Und die Menschen in der Welt draußen, sagte La Lune, waren verlorene Seelen. Sie betrogen einander, unterdrückten einander, schlugen sich die Köpfe ein. Die Politik, die das Zusammenleben lenken sollte, war nicht mehr als ein Zirkus der Mächtigen.
    Brot und Spiele.

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