Das blaue Mädchen
hab ich vielleicht Lust zu essen. Aber vielleicht auch nicht.«
»Du wirst Hunger bekommen«, probierte Jana es noch mal. »Bis zum Mittagessen dauert es ganz lange.«
»Egal«, sagte Miri. »Jetzt ist mein Bauch noch voll jedenfalls.«
Manchmal benutzte sie die Wörter wie Bauklötze, setzte sie zusammen, wie es ihr gerade in den Kopf kam. Jana hörte ihr gern zu. Sie war überhaupt sehr gern mit Miri zusammen. Viel zu gern. Sie hütete sich davor, es jemandem zu erzählen. Die Kinder des Mondes liebten alle Menschen gleichermaßen, sie bevorzugten keinen.
»Und dann heulst du wieder, weil du was essen willst«, sagte Indra. »Du bist sowieso eine Heulsuse.«
»Bin ich nicht!«
»Bist du wohl!«
»Hört doch auf zu streiten«, sagte Jana. »Kinder des Mondes streiten nicht.«
»Tun sie wohl«, sagte Miri.
»Tun sie gar nicht«, sagte Indra.
Miri rückte ganz nah an Jana heran. »Muss ich Indra auch lieb haben?«, flüsterte sie ihr ins Ohr.
»Ja«, flüsterte Jana zurück.
»Wenn ich die aber nicht leiden kann?« Miris Atem floss wie eine kleine warme Welle an Janas Hals entlang.
»Kinder, die flüstern, lügen«, sagte Indra.
»Und Kinder auch, die nicht flüstern«, sagte Miri.
Jana tastete unter dem Tisch nach ihrer Hand und drückte sie zärtlich.
»Jetzt ess ich was«, sagte Miri.
Jana schob ihr den Brotkorb hin und sah zu, wie sie eine Scheibe Brot umständlich mit Butter bestrich und dann Honig darauf träufelte.
Drei Mahlzeiten am Tag, daran hatten sich alle zu halten. Auch die, die morgens keinen Bissen herunterbekamen. Denn sie alle waren Teile einer Gemeinschaft, keine Individuen. Zumindest sollten sie keine sein. Sie lernten, sich zurückzunehmen, ein Glied in der großen Kette der Kinder des Mondes zu werden. Und ein Glied der Kette musste haargenau so sein wie das andere, sonst wäre die Kette nicht vollkommen.
Eine Kette, dachte Jana, während sie ihren Tee trank, kann einen Hals schmücken. Eine Kette kann aber auch Hände und Füße fesseln. Unter dem Tisch spreizte sie die Beine und wackelte mit den Füßen, um sicher zu sein, dass sie sich noch bewegen konnte.
Marlon fuhr mit dem Roller zur Schule. Er hatte ihn gebraucht gekauft und wieder auf Vordermann gebracht. Stunde um Stunde hatte er daran herumgebastelt. Technische Dinge gingen ihm leicht in den Kopf, auch der Traktor und die Maschinen mussten so gut wie nie in die Werkstatt, weil Marlon sich darum kümmerte. Wenn er nicht mehr damit zurechtkam, konnte man davon ausgehen, dass auch in der Werkstatt nicht mehr viel zu machen war.
Es würde ein heißer Tag werden. Schon jetzt tanzten die Mücken und es war drückend und schwül. Marlon schwitzte unter dem Helm. Er nahm ihn ab, hängte ihn an den Lenker und ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen. Am liebsten wäre er immer weiter gefahren, nicht nur bis in den Nachbarort, in dem sich die Schule befand.
Er hatte bis Mitternacht über seinen Büchern gesessen. Sie würden heute eine Deutschklausur schreiben. Die Lehrerin hatte eine Kurzgeschichte von Böll angekündigt. Interpretationen waren für Marlon ein Drahtseilakt. Ohne Netz. Was ein Autor zu sagen hatte, stand doch in der Geschichte. Warum Worte dazu machen?
Nachkriegszeit.
Trümmerliteratur.
Marlon grinste, als er daran dachte, was er sich zuerst darunter vorgestellt hatte. Eine zertrümmerte Literatur, vielleicht wie die der Dadaisten, aus Lust zerstört, zerhackt, die Kapitel in großen Brocken auf dem Boden liegend, die Sätze in Scherben, die Worte in Splittern. Das würde ihm Spaß machen, hatte er gedacht, eine zertrümmerte Geschichte wieder zusammenzusetzen, so wie er einen auseinander genommenen Motor wieder zusammenbaute, Stück für Stück, ruhig und gelassen, eins nach dem anderen.
Interpretation funktionierte genau anders herum: Die Geschichte wurde zerlegt, man pickte sich Stücke heraus, drehte und wendete sie – und dann bekam Marlon sie nicht wieder zu einem Ganzen. Jedenfalls nicht zu irgendwas, mit dem seine Lehrerin zufrieden war.
Für ihn ergaben seine Gedankengänge durchaus Sinn, doch was er in der Geschichte gesehen hatte, war niemals das, was andere darin sahen. Dabei war es mit einer Geschichte doch nicht anders als mit einem Bild – es sagte jedem Betrachter etwas anderes.
Auch in Kunst hatten sie interpretiert. Stauffer hatte ein Bild an die Wand gepinnt und sie aufgefordert, es zu deuten. Marlon hatte schweigend dabeigesessen. Fasziniert hatte er den anderen zugehört und
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