Das Blut der Rhu'u (German Edition)
war, würde Kyle in Edinburgh nach ihr suchen, weil er sich denken konnte, dass sie ein Flugzeug mit einem Ziel außer Landes nahm. Somit war dies die kritische Zeit. Sobald das Flugzeug mit ihr abgehoben hatte, war sie relativ sicher und konnte ihre Spur so gut wie möglich verwischen.
Zu dem Zweck stand ihr zumindest für die nächste Zeit – ein paar Jahre wahrscheinlich – ein Leben in ständiger Bewegung bevor, von einem Ort zum anderen und mit nie länger als höchstens zwei oder drei Tagen Aufenthalt dort. Das allein würde schon eine kleine Hölle für sie sein, da sie von Natur aus ausgesprochen häuslich und erdverbunden war. Dazu kam noch die für sie viel schlimmere Hölle ihres zukünftigen Broterwerbs. Sobald ihr Konto leer war – sie konnte an Bankautomaten nicht die gesamte Summe auf einmal abheben –, musste sie neues Geld verdienen. Es gab aber nur sehr wenige Jobs für einen Tag oder ein paar Tage. Also blieb als einziger Ausweg, dass sie ihre sukkubische Nahrungsaufnahme gleichzeitig zur Geldquelle machte und sich ihre »Dienstleistungen« von ihren Opfern bezahlen ließ. Alles andere war zu gefährlich. Aber wie sie mit diesem Problem umgehen sollte, würde sie entscheiden, wenn es so weit war.
Sie warf einen erneuten Blick zur Uhr. Ihr Flug musste in ungefähr zwanzig Minuten aufgerufen werden. Zeit genug, um vorher noch einmal die Toilette aufzusuchen. Sie ging zu den Waschräumen hinüber. Dabei sah sie sich ständig um, ob sie irgendwo jemanden von der Familie entdeckte. Aber außer gewöhnlichen Reisenden sah sie niemanden. Sie erleichterte ihre Blase und wusch sich anschließend am Waschbecken die Hände.
Sie spürte einen Luftzug hinter sich und ein Gefühl drohender Gefahr mit einer Intensität, die sie herumfahren ließ und etwas in ihr weckte, das sie noch nie gespürt hatte. Sie sah sich einem Mann mit einer Pistole in der Hand gegenüber, der auf sie zielte. Die soeben erwachte Magie schlug augenblicklich zu. Deren unsichtbare Kraft presste die Arme des Mannes an seinen Körper und paralysierte ihn. Seine Augen weiteten sich in panischem Entsetzen, als er merkte, dass er sich nicht mehr rühren und nicht einmal schreien konnte.
Ohne Karas Zutun saugte sich die Magie an ihm fest und sog sein Leben aus ihm heraus. Seine Haut bekam innerhalb von Sekunden erst Falten, dann tiefe Furchen. Sein Haar wurde schneeweiß. Die Pistole klapperte zu Boden. Seine Beine gaben nach. Er stürzte zu Boden – ein uralter Greis, zu schwach, um je wieder aufzustehen, der in wenigen Stunden an seiner Altersschwäche sterben würde.
Die Magie ließ ihn los. Kara kickte die Pistole aus seiner Reichweite unter das Waschbecken und stürzte aus dem Waschraum. Sie musste an sich halten, um sich nicht zu übergeben. Sie verstand nicht, was soeben passiert war. Sie begriff nur, dass sich in Todesgefahr ein Verteidigungsmechanismus entfaltet hatte, der sehr wirkungsvoll und sehr tödlich war. Zwar hatte der sie gleichzeitig mit einer schier unermesslichen Energie versorgt, die aber nicht ohne Nebenwirkung war. Zusammen mit der Energie hatte sie einige elementare Teile des Wesens dieses Mannes eingesogen, die sie jetzt überdeutlich spürte: seine Gefühlskälte, seine Mordlust, seine Menschenverachtung.
Sie fühlte sich zutiefst davon abgestoßen und »schob« diesen Teil der Energie in ein Reservoir. Da sie selbst diese widerlichen Anteile nicht wollte, platzierte sie sie in den Wurzeln eines halb vertrockneten Ficus, der in der Wartehalle ein kümmerliches Dasein fristete. Die Pflanze würde nur die Energie spüren, ohne die damit verbundenen negativen Gefühle. Falls Karas Vermutung zutraf, würde der Kümmerling in den nächsten Tagen einen enormen Wachstumsschub bekommen und grünen wie nie zuvor.
Ihr Flug wurde aufgerufen. Sie ging zum Gate und gab sich Mühe, so normal wie möglich zu wirken. Hoffentlich wurden die Passagiere nicht festgehalten, wenn jemand den Mann fand. Aber mit etwas Glück würde man ihn erst mal für einen alten Mann halten, der einen Schwächeanfall erlitten hatte. Nur die Pistole würde Rätsel aufgeben.
Aber sie hatte Glück. Wenig später saß sie im Flugzeug. Als es endlich abhob, ohne dass jemand von ihrer Familie oder die Polizei gekommen war und sie wieder hinausgezerrt hatte, schloss sie die Augen und versuchte, ein wenig zu schlafen. Sie hatte das Gefühl, dass sie all ihre Kraft noch brauchen würde.
*
Jarod hörte sich schweigend den Bericht an, den
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