Seidenfpade
1
Lhasa, Tibet
Oktober
Du kannst es nicht länger hinausschieben, sagte sich Danielle Warren energisch. Jetzt oder nie.
Sie holte tief Luft und trat wieder einmal in die engen, gewundenen Gassen von Lhasa hinaus. Die steinerne Stadt versank allmählich im schwindenden Licht der Dämmerung; Gebetsfahnen flatterten im eisigen Wind und schickten ihre stummen Bitten über die jahrhundertealten Mauern hinaus.
Am liebsten hätte Dani selbst einen Hilferuf gen Himmel gesandt. Sie befürchtete, daß mehr als nur der eisige Wind, der von den Höhen des Potala Palastes herunterwehte, sie verfolgte.
Die Fäuste tief in den Taschen ihrer schäbigen Daunenjacke vergraben, trotzte sie mit gesenktem Kopf dem tobenden Sturm. Ihre steifen Finger umklammerten die zwei Rollen chinesischen Geldes, als ob die tibetischen Dämonen sie ihr entreißen könnten.
Aber ihre Hauptangst galt der zweibeinigen Spezies von Dämonen, der sie im schrägen Dämmer dieses Oktobertags so verzweifelt zu entkommen suchte.
Zitternd vor Kälte, suchte Dani Zuflucht in einem Hauseingang, der älter als Jesus Christus war. Bei dreitausendsiebenhundert Metern über dem Meeresspiegel herrschte eine ziemlich dünne und schneidend kalte Luft. Da sie jedoch zuvor wochenlang mit tibetischen Schafhirten auf den kargen Weiden des Himalajagebirges gelebt hatte, machte ihr die Höhe nichts mehr aus.
Der Schatten, den sie aus den Augenwinkeln zu erspähen vermeinte, allerdings schon.
Tief und gleichmäßig atmend, wartete sie mit zusammengebissenen Zähnen. Nichts bewegte sich außer den Gebetsfahnen, die wie Laken von zahlreichen Leinen flatterten und knatterten.
Rasch und entschlossen trat Dani aus dem Hauseingang heraus und schlich sich in Richtung Markt. Ihre Schritte waren in den gewundenen Gassen und auf den abgetretenen Steintreppen kaum zu hören.
Alle paar Minuten duckte sie sich blitzschnell in einen Hauseingang oder hinter einen Pfosten, als ob sie trotz ihrer warmen Jacke Schutz vor dem beißenden Wind suchen würde. Jedesmal warf sie dann einen Blick über die Schulter.
Und sah immer nur Schatten.
Ich muß sie abgehängt haben, dachte Dani und beruhigte sich ein wenig. Sie haben den Vordereingang des Hotels bewacht, nicht den Dienstboteneingang.
Erleichtert seufzte sie auf und machte sich erneut auf den Weg. Als Archäologin mit dem Spezialgebiet antike Textilien war sie es gewöhnt, in Tibet und anderen abgelegenen Gebieten der Welt herumzureisen.
Aber dieses ausgeprägte Gefühl von Gefahr, das sie mit der kalten Himalajabrise verfolgte, hatte sie bisher nicht kennengelernt.
Das spirituelle Zentrum Tibets war eine besetzte Stadt, eine unfreiwillige Gefangene der Volksrepublik China. Was Dani vorhatte - sobald sie den Marktplatz erreichte - verstieß gegen das Gesetz.
Es verstieß ebenfalls gegen ihre eigene Berufsauffassung. Persönlich und professionell verurteilte sie den weitverbreiteten Schwarzhandel mit antiken Objekten aus der uralten tibetischen Kultur. Kunst und Geschichte verdienten absoluten Respekt. Den Schwarzhandel bekämpfte sie, wann immer sie ihm begegnete.
Nur heute nicht. Heute abend war sie zum ersten Mal in ihrem Leben Mitspieler in diesem gefährlichen Poker.
Und sie hatte Angst.
Laß das, darauf rumzureiten! sagte Dani sich wütend. Es ist ja nicht so, als würde ich ein unersetzliches Stück einheimischer Kultur kaufen, um es in einem westlichen Land weiterzuverscherbeln und tausend Prozent Profit zu machen. Ich verhindere, daß ein buchstäblich unbezahlbares, äußerst fragiles Kunstobjekt der Zerstörung anheimfällt.
Ob ihr das die Soldaten der Volksrepublik China abkaufen würden, wenn sie sie schnappten, stand auf einem anderen Blatt.
Die Finger taten ihr weh, so fest umkrallte sie das Geld in ihrer Jackentasche. Mit diesen fettigen Scheinen würde sie eines der außergewöhnlichsten Gewebe, das sie je erblickt hatte, retten.
Es war kaum zu glauben ... ein einfaches Stück blauer Seide von vor mehr als zweitausend Jahren! Ein uraltes Tuch, das, wenn man es nicht schützte, vom heftigen tibetischen Wind zerrissen würde. Ein Stoffetzen, der das Herz und die Seele Tibets repräsentierte. Du wirst noch überschnappen, ermahnte sich Dani, und das hilft auch nichts. Du hast es dir schon hundertmal durch den Kopf gehen lassen und deine Entscheidung getroffen. Jetzt leb auch damit.
Oder geh dabei drauf.
Hör jedenfalls auf zu grübeln!
Die Archäologin lockerte ihren Griff um die
Weitere Kostenlose Bücher