Das Blut von Magenza
Mönche in der Regel nicht bestahl, da ihre Börsen selten Reichtümer enthielten, hatte Wolff dieses Mal gegen sein Prinzip verstoßen. Hätte der Benediktiner während des Abendessens nicht immer wieder nach dem kleinen, ledernen Beutel getastet, hätte Wolff auch nichts Wertvolles darin vermutet.
Obwohl er das Geschehene bedauerte, zögerte er nicht länger und schnitt die Börse ab. Er stand auf, trat an die Fensteröffnung und schob den mottenzerfressenen Stoff davor zur Seite. Noch einmal wandte er sich um, warf einen letzten Blick auf den Toten, der aussah, als schliefe er, und stieg dann auf die erste Sprosse der Leiter. Sein Gefährte Hartwig hatte sie im Laufe der Nacht dort hingestellt, um ihm ein Entkommen zu ermöglichen. Von draußen zog er den Vorhang wieder zu und kletterte hinunter.
Hartwig erwartete ihn wie üblich mit ihren beiden dürren Kleppern in sicherer Entfernung. Die Pferde hatten sie genauso unredlich erworben wie fast alles, was sich in ihrem Besitz befand.
„Gab es Probleme?“, erkundigte er sich.
„Keine erwähnenswerten“, entgegnete Wolff ungeduldig im Aufsitzen. „Ich habe reichlich Beute gemacht. Und nungib deinem Ross die Sporen. Ich will weit weg sein, wenn der Tag anbricht. Es ist wohl besser, wir ziehen uns für die nächsten Wochen auf die andere Seite des Rheins zurück.“
„Demnach gab es doch Schwierigkeiten?“
Wolff ging nicht weiter darauf ein. „Ich erzähle es dir später. Lass uns zur nächsten Anlegestelle reiten und mit der ersten Fähre übersetzen“, sagte er und trieb sein Pferd an.
Mainz, Palast des Erzbischofs
Conrad stand an seinem Schreibpult und sortierte die Korrespondenz, die er im Namen seines Dienstherrn, Erzbischof Ruthard, beantworten sollte. Meist übernahm der Erzbischof die wichtigsten Briefe selbst, doch er war schwer erkrankt und rang mit dem Tod. Deshalb stapelten sich die Schreiben, von denen einige dringend beantwortet werden mussten, allen voran das an Kaiser Heinrich IV.. Aber Conrad war nicht recht bei der Sache. Der ansonsten so besonnene Benediktinermönch war in Gedanken woanders, denn außer der Gesundheit des Erzbischofs gab es noch anderen Anlass zur Sorge.
Ungewöhnliche Naturphänomene verunsicherten seit Monaten die Menschen und kündeten von drohendem Unheil. Angefangen hatte es mit den Nordlichtern, die bis weit in den Süden zu sehen gewesen waren. Ihr filigranes Farbenspiel sorgte für Verzückung wie auch für Entsetzen. Die Unerschrockenen erfreuten sich an dem Spektakel, die Ängstlichen hingegen glaubten, die Totengewänder Verstorbener zu sehen, die im Jenseits Mahnwache hielten, um die Lebenden vor dem nahen Ende zu warnen.
Ihnen folgten Sternschnuppenschauer und ein Komet, dessen feuriger Schweif sogar tagsüber zu sehen war. Zu allemÜberfluss schien sogar der Mond mit den unheilvollen Mächten im Bunde zu stehen. Er hatte sich einmal völlig verfinstert und war eine Zeit lang verschwunden gewesen. Seine Abwesenheit schürte die Furcht vor dem Weltuntergang, sodass die Menschen die ungewöhnlichen Himmelszeichen inzwischen für das Werk Lucifers hielten, der die Ankunft des Antichristen prophezeite.
Weitere Prüfungen wurden ihnen auferlegt. Missernten, Korn, das die Menschen vergiftete, unerklärliches Tiersterben und Erdbeben fachten die Angst weiter an. Manch einer verkaufte Hab und Gut und spendete sein Geld der Kirche in der Hoffnung sich so einen Platz im Himmel zu sichern. Andere lebten unbedarft in den Tag und verprassten alles, was sie besaßen, da der Tod sie ihrer weltlichen Güter ohnehin berauben würde.
Conrad teilte die Meinung der Skeptiker wegen des nahenden Weltendes nicht. Mochten die Pessimisten verkünden, was sie wollten, er sah das anders. Naturkatastrophen und seltsame Phänomene hatte es immer gegeben und dennoch existierte die Erde weiterhin. Aber er fürchtete, dass trotzdem gewisse Veränderungen bevorstanden. In seinen Augen betrafen sie allerdings weniger den Fortbestand alles Irdischen als vielmehr den der alten Ordnung. Seit der Papst den Beginn des Kreuzzugs für den 15. August A. D. 1096 ausgerufen hatte, rumorte es unter den Gläubigen. Die Zeichen standen auf Wandel und er fragte sich, ob er zum Besseren oder zum Schlechteren sein würde.
Aber alles Grübeln war müßig, er musste seine Arbeit erledigen und wandte sich wieder der Korrespondenz zu. Er griff nach der Feder, tauchte sie in das Tintenfass und schrieb sorgfältig Buchstabe für Buchstabe. Wann immer er
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