Das Buch der Gleichnisse
Erlöser?
Plötzlich konnte der Charakter des Notizblocks als Freibrief verschwinden und ersetzt werden durch – etwas, das einem bedrohlichen Celloton glich. Vielleicht wie in Sibelius’ Achter Sinfonie, nach dem Ritardando des zweiten Satzes? Den er mit Hilfe des Riesenmuskels der Vorstellungskraft jetzt restaurierte! Nein! Die Wahrheit war vielleicht, dass die Botschaft eher ein schriller Ton auf der Geige des Vaters war, die dieser im letzten halben Jahr vor seinem Tod gekauft hatte. Also dass das Geheimnis gerade das Nichtspielen auf seiner neu gekauften Geige war, die das Kind dann geerbt hatte. Und jetzt besaß. Die aber ungespielt geblieben war.
Und die er deswegen liebevoll, aber angsterfüllt Sibelius’ Achte nannte. All das, was er selbst von seinem Pfund veruntreut hatte. Die vom Vater ungespielte Geige, der Albatros um seinen Hals, und jetzt war die Zeit knapp, wenn er den anklagenden und drohend murmelnden Ton der vom Schlag gerührten Freunde am Ufer des Flusses richtig gedeutet hatte.
Das Gleichnis von der ungespielten Geige!
Er wird ganz zitterhändig, wenn er nur an diese Aufforderung denkt. Wie sie dort hing! Über seinem Arbeitstisch, wie ein frisch gehängter schwedischer Spion. Der stumm gaffte. Das Leichenfoto einer ungespielten Geige! Die vielleicht ungespielt bleiben würde, obwohl er sie sich einmal im Übermut vorgenommen hatte, aber schrill gescheitert war und da das schreiende Jammern des Vaters von jenseits des Flusses zu hören gemeint hatte.
Vielleicht war alles, was er über seine Eltern geglaubt hatte, in gewissem Maß wie eine ungespielte Geige, die, wenn er sie zu spielen versuchte, nur einen schrillen Ton von sich gab, und dies das ganze Geheimnis mit den glänzenden Augen der Freunde, wenn sie ihn auf dem Weg über den Fluss zu sich riefen. Vielleicht war diese ungespielte Geige das Zeichen dafür, dass es aus war, gänzlich aus, wie für den armen Teufel Sibelius im Kampf gegen den Schnaps und die Achte Sinfonie.
Aber wenn er nur den Bogen hob, ohne damit die schrillen Saiten zu berühren, vielleicht würde dann das Geheimnis offenbart werden.
*
Das Kind – jetzt im Jahre 2011 beinahe grotesk runzelig, uralt, aber lebendig unter der abstoßenden Hautoberfläche – bemerkt zu seinem Entsetzen, dass eine Anzahl Seiten in der Mitte des Blocks herausgerissen sind .
Es muss vor dem Brand geschehen sein.
Sehr eigentümlich. Entweder enthielten die neun Blätter so intensive Liebesgedichte an die Mutter, dass sie hatten bewahrt werden müssen, oder es stand etwas anderes da. Er versuchte sich einen chronologischen Ablauf des Handelns der Mutter vorzustellen – also zuerst das Lesen, dann ein Ausruf der Verblüffung oder Wut, dann das Herausreißen der kontroversesten Seiten, dann das Anzünden des Feuers im eisernen Herd, dann das Verbrennen der neun Seiten, nein, neun Blätter!, dann das Hineinwerfen des ganzen Notizblocks, dann ein Augenblick des Nachdenkens, deshalb das Hineinstecken der bloßen! Hand in die brennenden Flammen, dann das Herausziehen des Notizblocks und Bewahren dieses Dokuments.
Und dann das Verblüffendste – der Verlust durch Fahrlässigkeit! So dass die Tochter der Tante, nach deren Tod, das Dokument auffinden konnte.
Das vielleicht ein Freibrief war. Ein Freibrief! Er würde frei sein zu schreiben, was er wollte!
Über den Vater gab es nur den dem Notizblock beigefügten Nekrolog; er war im Norra Westerbotten veröffentlicht und ausgeschnitten worden.
Hatte die Großmutter Lova ihn geschrieben? Sie war ja die Dorfchronistin. Er war jetzt heruntergeschickt worden, an den einzigen Sohn des Toten.
Ihm zur Hilfe und Wegweisung? Oder als Drohung?
An Elof Enkvists Bahre.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam die Nachricht von deinem Fortgang. Eben standest du noch gesund und stark in jugendlicher Glut und Handlungskraft zwischen uns. Dann kommt der Tod, dieser unserer Meinung nach rücksichtslose Herr, und riss dich schonungslos aus unseren Reihen. Edel und aufrichtig war dein Streben. Du besaßest in höchstem Grad die Gabe des Humors. Wie oft hast du nicht mit deinem Humor und deinem jugendlichen, wohltuenden Scherz und deiner kerngesunden Heiterkeit Freude und Wohlbefinden um dich verbreitet. Doch deine Seele kannte auch Tiefen. Du warst rücksichtslos ehrlich und kritisch gegen dich selbst, und dadurch wurde auch dein Handeln geprägt. Du suchtest Klarheit, du suchtest Wahrheit. Du warst kein Freund des Kompromisses, wenn es um etwas ging,
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