Das Buch der Gleichnisse
ein Rätsel schuf, das schwerer zu beantworten war als das erste, das von der verbotenen Dichtung . Sie hatte ins Feuer gestarrt und dann hineingegriffen, mit der bloßen Hand, und die jetzt flammende Schrift gepackt und trotz des brennenden Schmerzes den Notizblock vor der Vernichtung gerettet.
So hatte ihn der Block, sechsundsiebzig Jahre später, erreicht. Er zweifelte keine Sekunde. Eine Botschaft von der anderen Seite des Flusses. Und die Botschaft war leicht zu deuten. Zu dichten war keine Sünde, aber die Hitze des Fegefeuers war nötig, um die Wahrheit herauszuschweißen. Wie es in den Sprüchen Salomos zu stehen pflegte.
So begann er im Frühjahr 2011 langsam, die Gedichte aus den geretteten Seiten herauszulesen, um damit, durch diese postume Botschaft, zur Wahrheit vorzudringen, bevor es zu spät wurde und bevor die glänzenden Augen der Freunde in sein Leben eindrangen und ihn an das Leben erinnerten. Dass es mehr nicht war . Und es damit vielleicht beendeten. Er las die Gedichte langsam, und mit angehaltenem Atem.
Jetzt, bald.
*
Es war ja selbstverständlich, dass dies, der Freibrief, »Texte« waren, also aneinandergereihte Wörter .
Es stellte eine Art Nekrolog dar, der von einem Leben handelte, und einer Liebe. Die Mutter, die junge Frau, die also bereute und ihre bloße Hand den brennenden Flammen aussetzte, hatte geglaubt, dass das Geschriebene klebrig sei wie der klebrige Sirup, aber erkannt, dass sie sich geirrt hatte.
Das Kind – jetzt sechsundsiebzig Jahre alt – machte sich diese neue Wirklichkeit unmittelbar zunutze. Über diese – nicht sirupklebrige – Liebe würde er schreiben. Solange die Zeit reichte! und er nicht von den stummen, aber vorwurfsvollen und wässerigen Augen der Freunde aufgescheucht wurde, die besagten, dass auch ihn bald der Schlag treffen würde .
Er hat Angst. Wie kann er dies, also die Angst, in die Rede im Gemeindehaus einfügen? Oder hindert ihn der Chor der Stimmen seiner Kameraden am Ufer des Flusses daran, den Liebesroman niederzuschreiben, vor dem er sich ängstlich duckt?
Schon im Mai 2011 beginnt er im übrigen, den wiedergefundenen Notizblock als bedrohlich oder irritierend zu erleben.
Es sind neun herausgerissene Blätter, die ihm Angst einjagen. Aber dazu später.
Er war ja davon ausgegangen, dass alles ein Bild ungeteilten Glücks wäre. Warum hatte die Mutter sonst, mit bloßer Hand! , in die lodernden Flammen gegriffen und die Gedichte gerettet? Aber wie kann er eigentlich wissen, dass die ganz und gar nicht fragmentarischen Liebesgedichte an die Mutter gerichtet sind? Sie hatten vielleicht einer anderen gegolten? Weg damit! Weg damit! Mehrere Eintragungen in den Tagebüchern der Mutter deuten im Gegenteil an, dass sie – plötzlich – Augenblicke von heftiger und überraschender Freude erleben konnte; ein Erwachen eines Morgens um sechs Uhr, als sie Gott dankt für eine Einsicht, die überwältigend war . Dies spricht eine deutliche Sprache.
Es scheint dem Mann zu gelten, also dem Vater; er hat etwas erzählt.
Immer hat er dies so gedeutet, als ob der Vater in dieser Nacht befreit wurde, hin zu seinem Glauben an den Erlöser. Etwas so Kräftiges!, wie ein Orgasmus, aber überhaupt nicht in diese Richtung, glaubensgewisser und leichter zu schlürfen. Aber etwas Neues!
Der Vater war ja nicht immer erweckt gewesen.
Im Gegenteil, er hatte nachdrücklich erklärt, ein freier Mensch zu sein, auf diese insistierende Weise, dass man das höllische Ende befürchten konnte. Vielleicht das des Trinkers? Der Fluch des Sohnes! Und hatte der Vater nicht auch einmal ein Motorrad mit Seitenwagen gekauft! War mit dem herabsetzenden ein Charmeur! bedacht worden.
Auf jeden Fall war seine Frömmigkeit weitaus später gekommen, vielleicht gleichzeitig mit dem Gedichteschreiben, oder wahrscheinlich noch später, vielleicht als das Autorenjucken aufgehört hatte oder versiegt war. Aber irgendwann war er plötzlich erweckt worden. Und nicht auf dem Totenbett, wo die Erweckung ja als unsicher empfunden werden konnte!, vielleicht als notgedrungen, etwas, was eher aus der überwältigenden Angst vor den ewigen Qualen geboren worden war.
Nein, die echte Sündenangst soll weitaus später gekommen sein. Oder vielleicht nur früher. Vielleicht eines Nachts, und da hatte er die Ehefrau geweckt und ihr mitgeteilt, dass er durchgekommen war. Und da war ihr Glück groß gewesen.
Aber vielleicht ging es gar nicht um die Erweckung des Ehemannes durch den
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