Das Buch der Schatten - Böse Mächte: Band 6 (German Edition)
ihr gegeben hatte. Er hatte in ihrem Buch der Schatten gestanden– wahrscheinlich kannte ihn heute sonst niemand mehr. Ich schoss zu Selenes Stimme herum und sah, wie sie vor einem Bücherregal auftauchte, wie sie aus einem tiefen Schatten ins Licht trat. Sie war schön wie eh und je mit ihrem sonnengebleichten dunklen Haar und ihren seltsam goldenen Augen, die mich so an Cals Augen erinnerten. Dies war seine Mutter. Sie hatte ihn zu dem gemacht, was er war.
Auch Selene trug nur ihre Magierrobe, die aus karmesinroter Seide gefertigt und von oben bis unten mit Symbolen bestickt war. Es war dasselbe uralte Alphabet, das sie bei den magischen Sprüchen an der Tür benutzt hatte. Es war einst auch Alyce beigebracht worden, aber nur, damit sie es kannte und unwirksam machen konnte. Das Alphabet war von Natur aus böse, seine Buchstaben konnten nur für schwarze Magie benutzt werden. Weil Alyce es einst gelernt hatte, kannte ich es jetzt auch.
» Morgan, danke, dass du gekommen bist«, sagte Selene. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Hunter im Kreis herumging und versuchte, auf die andere Seite des Raums zu gelangen, damit Selene zwischen uns war. » Es tut mir wirklich leid, dass ich zu solchen Mitteln greifen musste. Ich versichere dir, dass ich deiner Schwester nichts getan habe. Aber sobald mir klar wurde, dass du auf eine normale Einladung nicht reagierst– na ja, da musste ich mir etwas einfallen lassen.« Sie schenkte mir ein charmantes, kleinlautes Lächeln, und plötzlich kam sie mir vor wie der attraktivste Mensch, der mir je über den Weg gelaufen war. » Bitte verzeih mir.«
Ich sah sie an. Einst hatte ich sie sehr bewundert und sie um ihr Wissen, ihre magischen Kräfte und ihre Fertigkeiten beneidet. So dumm war ich jetzt nicht mehr.
» Nein«, sagte ich laut und vernehmlich und sie kniff die Augen zusammen.
» Es ist vorbei, Selene«, sagte Hunter mit eisiger Stimme. » Du hattest eine lange Laufbahn, aber deine Tage bei Amyranth sind gezählt.«
Amyranth? Was ist das denn?, überlegte ich.
» Morgan?«, fragte Selene, ohne auf Hunter zu achten.
» Nein«, wiederholte ich. » Ich verzeihe dir nicht.«
» Du verstehst das nicht«, sagte sie geduldig. » Du weißt zu wenig, um wirklich zu wissen, was du tust. Hunter hier ist nur schwach und fehlgeleitet, aber wen interessiert das schon? Er bedeutet niemandem das Geringste. Aber du, meine Liebe. Du besitzt ein Potenzial, das ich nicht übersehen kann.« Sie lächelte wieder, doch diesmal war es ein gruseliges Lächeln, wie von einem Skelett, das die Zähne entblößt. » Ich biete dir die Chance, machtvoller zu sein, als du dir vorstellen kannst«, fuhr sie fort. Ihre Robe raschelte zischend, als sie näher kam. » Du bist eine der wenigen Hexen, denen ich begegnet bin, die würdig sind, eine von uns zu sein. Du könntest zu unserer Größe beitragen, statt uns zu bekämpfen. Du… und die magischen Werkzeuge deiner Mutter.«
Meine Fäuste schlossen sich instinktiv fester um den Magierstab und den Athame, und ich versuchte, die Spannung in meinem Körper zu lösen. Ich musste entspannt und ruhig bleiben, damit die Magie fließen konnte.
» Nein«, sagte ich noch einmal und meine Sinne griffen den augenblicklich in Selene aufflackernden Zorn auf. Sie unterdrückte ihn sofort, doch die Tatsache, dass ich ihn überhaupt gespürt hatte, hieß, dass sie sich nicht so unter Kontrolle hatte, wie es nötig gewesen wäre. Ich atmete tief durch und handelte gegen alle Instinkte: Ich versuchte mich zu entspannen, mich zu öffnen, mich nicht mehr zu schützen. Ich ließ Wut, Angst und Misstrauen ebenso los wie meinen Wunsch nach Rache. Immer wieder dachte ich: Magie ist Offenheit, Vertrauen, Liebe. Magie ist Schönheit. Magie ist Stärke und Vergebung. Ich bin aus Magie gemacht. Ich dachte daran, wie ich mich nach dem tàth meànma brach gefühlt hatte, wie ich gespürt hatte, dass die Magie überall war, in allem, in jedem Molekül. Wenn ich von Magie umgeben war, dann musste ich sie nur in die Hand nehmen. Ich konnte darauf zugreifen. Ich konnte sie nutzen. Ich hatte alle Kraft der Welt in meinen Fingerspitzen, wenn ich sie nur einließ.
Ich ließ sie ein.
Im nächsten Augenblick klappte ich keuchend zusammen, denn ich wurde von einer Welle brennenden, beißenden Schmerzes getroffen. Ich würgte, erstickte schier an der entsetzlichen, krampfenden Höllenqual, und dann sank ich auf Händen und Knien zu Boden und schnappte nach Luft und hatte das Gefühl, mein
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