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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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Kind bleiben lassen. Warum aber erlaubte er dem Leben, mich zu schlagen, mir mein Spielzeug zu nehmen und mich allein zu lassen im Pausenhof, wo ich meine blaue, von vielen Tränen schmutzige Schürze mit hilflosen Händen zerknitterte? Wenn ich nur verzärtelt leben konnte, warum hat man dann diese Zärtlichkeit mit Füßen getreten? Ach, jedesmal, wenn ich auf der Straße ein Kind weinen sehe, von den anderen verstoßen, schmerzt mich mehr noch als der Kummer des Kindes der furchtbare Schock, den mein müdes Herz bei diesem Anblick erleidet. Ich selbst tue mir weh von Kopf bis Fuß mit dem gefühlten Leben, meine Hände zerknittern den Schürzensaum, mein Mund verzieht sich wirklich weinend, mein ist die Schwäche und mein die Einsamkeit, und das Lachen des erwachsenen Lebens, das an mir vorübergeht, wirkt auf mich wie die Flamme eines Streichholzes, das man am empfindsamen Stoff meines Herzens entzündet.

408
    Er sang mit samtweicher Stimme ein Lied aus einem fernen Land. Die Musik ließ die unbekannten Worte vertraut erscheinen. Sie wirkte wie ein Fado auf die Seele, hatte jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit ihm.
    Mit seinen verhüllten Worten und seiner menschlichen Melodie erzählte das Lied von Dingen, die in den Herzen aller sind und die keiner kennt. Er sang wie traumverloren, der Straße entrückt, sein Blick nahm die Zuhörer nicht wahr.
    Das versammelte Volk hörte ihm ohne sichtbare Spötteleien zu. Das Lied war das Lied aller, und seine Worte sprachen bisweilen zu uns – orientalisches Geheimnis einer untergegangenen Rasse. Wir hörten den Straßenlärm nicht mehr, wenngleich wir ihn hörten, und die Fuhrwerke rasselten so nah vorüber; daß eines leicht mein Jackett streifte. Doch ich spürte es nur und hörte es nicht. Es lag eine Hingabe in dem Gesang des Unbekannten, die dem, was in uns träumt oder scheitert, wohltat. Ein Menschenauflauf hatte sich gebildet, und alle bemerkten wir den Polizisten, der langsam um die Ecke gebogen und nun ebenso langsam näher kam. Er blieb eine Zeitlang hinter dem Regenschirmverkäufer stehen wie einer, dem etwas unangenehm ins Auge sticht. Der Sänger verstummte. Niemand sprach ein Wort. Da griff der Polizist ein.

409
    Ich weiß nicht warum, aber mit einem Mal fällt mir auf, daß ich allein im Büro bin. Ich hatte es schon vage geahnt. Irgendwo in meinem Bewußtsein empfand ich große Erleichterung, die Lungen waren anders, atmeten tiefer.
    Eine der sonderbarsten Empfindungen, die uns zufällige Begegnungen und Abwesenheiten vermitteln können, ist die des Alleinseins in einem für gewöhnlich belebten, geräuschvollen oder fremden Haus. Plötzlich überkommt uns ein Gefühl absoluten Besitzes, mühelos gewonnener Macht und Weite- und, wie bereits gesagt, ein Gefühl der Erleichterung und Ruhe.
    Wie wohltuend, ganz und gar allein zu sein, laut Selbstgespräche zu führen, unbehelligt von Blicken umherspazieren und sich zurücklehnen zu können in eine ungestörte Träumerei! Das gesamte Haus wird zum weiten Feld, jeder Raum so groß wie ein Landgut.
    Die Geräusche nehmen sich allesamt fremd aus, als gehörten sie zu einem nahen, aber unabhängigen Universum. Endlich sind wir Könige. Danach streben wir alle; das gemeine Fußvolk vielleicht sogar entschiedener als die Herren falscher Pracht. Einen Moment lang sind wir Rentner des Weltalls und leben, unserer regelmäßigen Rente sicher, bedürfnislos und sorgenfrei.
    Ach, aber ich erkenne am Schritt auf der Treppe, dem Schritt von ich weiß nicht wem, den Jemand, der zu mir heraufkommt, meine erholsame Einsamkeit zu stören. Meinem stillschweigenden Imperium droht eine Barbareninvasion. Nicht daß mir der Schritt verriete, wer da kommt, nicht, daß mich der Schritt an diesen oder jenen erinnerte, den ich kenne. Ein dumpfer Instinkt in der Seele verrät mir, daß da einer kommt, heraufkommt, einstweilen noch als Schritt auf der Treppe, die ich mit einem Mal gewahr werde, weil ich an den denke, der sie heraufkommt. Jawohl, es ist einer der Angestellten. Er hält inne, die Tür geht auf, er tritt ein. Ich sehe ihn ganz. Und beim Eintreten sagt er zu mir: »Allein, Herr Soares?« Und ich antworte: »Ja, schon länger …« Und während er sich aus seinem Jackett schält, meint er mit einem Blick auf das andere, alte, auf dem Bügel: »Wirklich langweilig, wenn man hier so allein ist, Herr Soares, und außerdem …« – »Wie recht Sie haben«, pflichte ich ihm bei. »Man könnte geradewegs einschlafen«, sagt er,

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