Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Bewußtsein meines Gaumens. So erweckt er, dichter und intensiver, alle jene Stunden, die ich starb zu neuem Leben, macht sie gegenwärtig, liegen sie länger zurück, vernebelt sie, umzingeln sie mich, vergeistigt sie, gebe ich ihnen Gestalt. Eine Mentholzigarette, eine billige Zigarre umwölken manchen dieser Augenblicke sanft. Mit welch subtiler und einleuchtender Kombination aus Aroma und Geschmack ich diese toten Szenerien auch wiederbelebe und erneut mit den Farben der Vergangenheit versehe, immer sind sie so sehr 18. Jahrhundert in ihrer trägen maliziösen Distanzierung, immer so mittelalterlich in ihrem unabänderlich Verlorenen!
401
Ich verlieh meiner Schmach Glanz und wurde überreich an Schmerz und Vergehen. Ich habe kein Gedicht gemacht aus meinem Schmerz, doch eine feierliche Prozession. Und von dem Fenster aus, das zu mir geht, betrachte ich mit Staunen die purpurroten Sonnenuntergänge, die unbestimmten Dämmerungen grundlosen Schmerzes, durch die im Ritual meines Irrens all die Gefahren ziehen, die Bürden und Versäumnisse meiner angeborenen Unfähigkeit zu leben. Das Kind in mir – nichts hat es töten können – wohnt noch immer begeistert und bunt betreßt der Zirkusvorstellung bei, die ich selbst mir gebe. Es lacht über die Clowns, wie es sie nur im Zirkus gibt; betrachtet Zauberkünstler und Akrobaten, als seien sie das Leben selbst. Und so schläft freudlos, doch zufrieden, zwischen den vier Wänden meines Zimmers mit seiner häßlich zerschlissenen Tapete, unschuldig all die ungeahnte Qual einer übervollen Menschenseele, all die unheilbare Verzweiflung eines von Gott verlassenen Herzens.
Ich gehe nicht durch die Straßen, ich gehe durch meinen Schmerz. Und die Häuserzeilen sind all jene Verständnislosen, die meine Seele bedrängen; […] meine Schritte hallen wider auf dem Pflaster wie lächerliches Totengeläut, erschreckend in der Nacht, endgültig wie eine Quittung oder ein Grab.
Ich löse mich von mir und sehe, ich bin der Grund eines Brunnens.
Der ich niemals war, ist gestorben. Der ich hätte sein sollen, ist von Gott vergessen. Ein leeres Interludium bin ich.
Wäre ich Musiker, schriebe ich meinen eigenen Trauermarsch, und ich täte gut daran!
402
Wiederwerden in einem Stein, in einem Staubkorn – er weint mir in der Seele, dieser Wunsch.
Ich finde immer weniger Geschmack an allen Dingen, selbst daran, an nichts Geschmack zu finden.
403
Ich finde mir keinen Sinn … Das Leben lastet … Alle Emotion ist mir zuviel … Mein Herz ein Privileg Gottes …
Welch festlich vergangene Prozessionen rufen jenen Überdruß vergessenen Glanzes in mir wach, der meine Wehmut einwiegt?
Und welche Baldachine, welche Sternenfolge, welche Lilien, Wimpel, Kirchenfenster?
Welch schattig geheimnisvollen Weg nahmen unsere schönsten Träume, die sich so lebhaft der Zypressen, des Buchsbaums und des Wassers dieser Welt erinnern und doch keine Baldachine finden für ihre Festumzüge, es sei denn im Gefolge des Verzichts?
Kaleidoskop
Sprich nicht … Du bist zu sehr Ereignis … Hätte ich dich doch nicht vor Augen! … Wann endlich bist du nur noch sehnsüchtige Erinnerung? Wie viele wirst du noch sein, bis dem so ist! Wie lange noch muß ich mir vorstellen, du seist eine alte Brücke, über die keiner mehr geht … Das ist Leben. Die anderen haben ihre Ruder sinken lassen … Die Kohorten ihre Disziplin verloren … Die Reiter brachen auf im Morgengrauen, und das Klirren ihrer Lanzen … Deine Burgen verlangte es wieder nach Leere … Kein Wind ließ ab von den Baumreihen auf dem Berg. Nutzlos die Säulenhallen, verwahrt das Tafelgeschirr, Vorzeichen von Prophezeiungen – all dies ist Teil der besiegten Dämmerungen in Tempeln und nicht Teil unserer Begegnung im Jetzt, denn keinen Grund gibt es, daß Linden Schatten spenden, nur deine Finger und ihre späte Geste …
Zahllos die Gründe für ferne Gebiete … Verträge, ausgehandelt von Glasfensterkönigen … Lilien religiöser Gemälde … Wen erwartet das Gefolge … Wohin schwang sich der verirrte Adler auf?
404
Die Welt um unsere Finger wickeln, wie eine Frau spielerisch versonnen an ihrem Fenster einen Faden oder ein Band.
Alles läuft darauf hinaus, den Überdruß so zu empfinden, daß er nicht schmerzt.
Es wäre reizvoll, zwei Könige zugleich zu sein: nicht nur ein und dieselbe Seele beider, sondern zwei königliche Seelen.
405
23 . 3 . 1933
Das Leben ist für die meisten eine
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