Das Buch des Wandels
Ouvertüre
IM HAUS DER SCHMETTERLINGE
Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, dass man
nach neuen Landschaften sucht. Sondern dass man mit neuen
Augen sieht.
Marcel Proust
Das Wiener Schmetterlingshaus ist ein Ort der Verwandlung. 1901 im Stil der Art-déco-Stahlkonstruktionen der Jahrhundertwende errichtet, trägt es auch heute noch alle Attribute einer Zeit, die von einer neuen Verbindung von Fortschritt und Schönheit träumte. Seine sanft gewölbten türkisblauen Streben geben dem Bau eine lichte Größe, die dennoch immer auf menschliches Maß bezogen bleibt. Die Leichtigkeit und Transparenz bildet einen eleganten Kontrast zur imperialen Hofburg, die sich gleich dahinter wie ein gigantisches Borg- Raumschiff in den Himmel erhebt. Aus diesem Steingebirge heraus wurde einige Jahrhunderte lang das größte europäische Imperium, Österreich-Ungarn, regiert. Auf dem Balkon, der zum Heldenplatz weist, hielt Hitler im März 1938 seine Schreirede zur Einverleibung Österreichs ins Deutsche Reich.
Als meine beiden Söhne noch klein waren, besuchten wir zusammen oft jenen 300 Quadratmeter großen künstlichen Dschungel der Schmetterlinge, der sich heute als Touristenattraktion in einem Teil des Gebäudes befindet. Die Kinder gruselten sich königlich in einer dunklen Höhle und spielten mit Hingabe Verstecken hinter hohlen Baumriesen-Wurzeln aus täuschend echt wirkendem Kunstharz. Wasser tropfte in Kaskaden in mehrere Becken, in denen träge Kois trieben. Es roch schwül nach Tropen. Und überall, an den Glasflächen, an den Stahlträgern, saßen die riesigen Schönheiten der tropischen Falter. Handgroße
Blaue Morphos in strahlendem Ultramarin, zarte Große Kuriere in rot-schwarz-gelben Dekors, vornehme Eulenfalter in melierendem Graubraun, verziert mit ganzen Reihen von Augen, elegante Zebrafalter aus dem Amazonasbecken. Manchmal, mit einem sanften Windhauch, landeten sie auf der Schulter oder unbemerkt auf den Schuhen, wo sie Salz rochen, und klappten ihre Flügel auf und zu. Wesen wie von einem fremden Stern.
Am meisten faszinierte uns jedoch jener Glaskasten gleich neben dem Eingang, in dem in kaltblauem Licht die nächsten Schmetterlingsgenerationen ausgebrütet wurden. Dort hingen die grellgrünen, mattschwarzen, filzigen oder glatten Larven in langen Reihen an Holzstäben. Die Kokons wirkten auf beängstigende Art und Weise hässlich, obszön, wie eine plastikhafte, schillernde Monstersaat aus dem All. Manchmal zuckten die harten Schalen, als würden in ihrem Inneren Krämpfe toben. Und bisweilen konnte man Zeuge werden, wie die fertigen Falter plötzlich, innerhalb weniger Minuten, zuckend ihrer Hülle entstiegen. Torkelnd und zitternd, wie verkrüppelt von der Arbeit der Metamorphose, bedeckt mit feinem weißen Staub, krochen sie einige Zentimeter an den Stangen entlang. Um dann wieder, wie geblendet von ihrer neuen Existenz, stundenlang zu erstarren. Und sich dann mit einem Mal in die Luft zu erheben. Vier, fünf, vielleicht acht Wochen würden sie leben, nicht mehr.
Was will uns die Natur mit der Metamorphose der Schmetterlinge sagen? Dass wir alle unansehnliche Raupen sind und aller Wandel, alle Schönheit nur durch radikale Zerstörung zu erreichen ist? Die Raupe ist ein robustes Lebewesen, das sich stoisch durch seine biologische Umgebung frisst. Diese Gier und Verfressenheit gilt allein dem Kraftgewinn für die entscheidende Phase der Verwandlung. Dem großen Sprung vom kriechenden Raupendasein zum leuchtenden evolutionären Statement eines Schmetterlings. In der Phase der Verpuppung, als sogenannte Chrysalis, ist die Larve hilflos jedem Außenreiz ausgesetzt. Wind, Sonne, Regen, jegliche Berührung oder Störung kann sie zum
Absterben bringen. Bei ihrer Transformation »verdaut« sich die Raupe selbst, sie wird molekular radikal umgebaut – ein Prozess, der sich Histolyse nennt, die radikalste Form der Veränderung, die sich vorstellen lässt.
Kennen wir nicht solche Verpuppungen allzu gut? In der Pubertät verhalten sich unsere Kinder wie übergroße Larven – sie schlafen bis mittags und sind in einen Kokon aus Trotz und Abwehr eingesponnen. Auch wenn Menschen sich in Phasen außergewöhnlicher Kreativität befinden, begeben sie sich in einen Zustand der Unerreichbarkeit. Und warum wandern heute so viele Menschen auf Pilgerpfaden? Die Sehnsucht nach innerer Wandlung ist groß. Aber der Weg zum Schmetterling ist mühsam und steinig. Tiki Küstenmacher (dem ich diese
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