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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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»Warum die Menschen sesshaft wurden« noch ein weiteres, nur scheinbar abwegiges Argument ins Feld: Alkohol. »Keine menschliche Kultur war und ist offenbar ganz frei von Anregungs- und Suchtmitteln. Am umfangreichsten bedient man sich ihrer gemeinsam in der Gruppe.« 18 Irgendwann merkten halbsesshafte Gruppen, dass Getreide und Früchte, die sie zu lange lagerten, bei ihrem Genuss seltsame Seelenzustände erzeugten. Danach scheint Alkohol einen Entwicklungsschub bewirkt zu haben, weil er Gemeinschaftsrituale stimulierte und weil die Menschen, um zuverlässig Alkohol zu erhalten, Getreide anbauten zur Gewinnung von Bier.
    Die ersten Bauern siedelten in einem breiten Bogen vom heutigen Israel über Ostanatolien und das kurdisch-iranische Grenzgebiet bis an das Flussgebiet des Euphrat, im »fruchtbaren Halbmond«. Sie begannen die zweite Phase des Großen Menschheitsexperiments mit einer Art »genetischem Handicap«: Nutzpflanzen und Nutztiere blieben in ihrem Eiweiß- und Kaloriengehalt noch lange nahe an den Wildformen. Bis sich ertragreiche Getreidesorten, fette domestizierte Schafe und milchintensive Kühe aus den Rohformen der Natur »herausgemendelt« hatten, brauchte es viele Zuchtversuche.
    Die gebückte Haltung der Bauern beim Ackern, die Erdarbeit durch pure Körperkraft ist in unseren inneren Bildern von Arbeit tief eingebrannt. In vielen heiligen Schriften wird der Übergang zur bäuerlichen Kultur ja auch als eine Art göttlicher Bestrafung interpretiert. Womöglich war jedoch gerade die Mühsal der Grund für den erstaunlichen Fortschritt der Bauernkultur. Innerhalb weniger Jahrhunderte erlernten Menschen überall auf der Welt eine Vielfalt von technischen Fähigkeiten, die die neuen Lebens- und
Ernährungsgrundlagen verbesserten: Pflügen, Töpfern, Backen, Metallbearbeitung, Steinbearbeitung, Lederverarbeitung, Textilien, Färben und Malen, Konservieren, Hausbau, Bootsbau, erste Formen der Düngung, der Einzäunung – den neolithischen Wandel nannte man nicht zu Unrecht eine »Revolution«.
    Jede neue Lebensgrundlage erzeugt neue Verhaltensweisen und Mentalitäten. Agrarkulturen unterschieden sich von den Tribalkulturen schon durch ihren Sichtwinkel auf die Welt. Es ist kein Wunder, dass in vielen Regionen Jäger-und-Sammler-Kulturen und Bauern nebeneinanderherlebten, ohne sich zu vermischen. Wer sesshaft wird, fängt an, die Welt in einer neuen Zeitfolge zu sehen. Die zyklische »Traumzeit«, wie sie bei vielen tribalen Kulturen herrscht, wird durch lineare Zeithorizonte abgelöst, in denen Planung und Erwartung eine große Rolle spielen. Von da ist es zum Zahlenwesen nicht mehr weit. So entstand rund um die Hauswirtschaft des Bauerntums ein neues Kognitionssystem. Und zum ersten Mal in der Geschichte gab es zumindest in guten Jahren etwas, das den weiteren Weg der menschlichen Geschichte fundamental beeinflussen sollte: Überfluss.

»Big Men«-Kulturen: Konkurrenz, Krieg, Charisma
    Als die ersten französischen Siedler vor rund dreihundert Jahren in die mückenverseuchten Sümpfe des unteren Mississippi vordrangen, begegneten sie einem Indianerstamm, dessen Häuptling ein extremes Selbstbewusstsein an den Tag legte. Ein jesuitischer Priester bemerkte empört: »Er kennt nichts Edleres und Erleseneres auf der Erde als sich selbst!« Da die Natchez als zentrale Gottheit die Sonne verehrten, nannte sich der Häuptling »Bruder der Sonne«. Sein Volk, immerhin einige tausend Köpfe stark, war geübt in Sonnenverehrung. Und fand offensichtlich wenig daran auszusetzen, dass der gesamte Hofstaat des Häuptlings nach dessen Tod erst große Mengen Tabak aß, bis die Leute das Bewusstsein
verloren, um dann von den anderen Stammesmitgliedern stranguliert zu werden. Im Namen der Sonne! 19
    Wieso entwickelten sich in einigen Regionen der Erde Kulturen, in denen plötzlich steile Hierarchien vorherrschten, mit mächtigen, ja größenwahnsinnigen Herrschern? Welche Kräfte führten zur Differenzierung der Gesellschaft? Eine mögliche Antwort lautet: Krieg und Nahrungskonkurrenz.
    Nomadische Kulturen können Konflikten ausweichen. Sie arrangieren sich wie die!Kung auf einem weiträumigen Terrain und halten ihre Bevölkerungszahlen stabil. Für Menschengruppen außerhalb dieses Territoriums ist es nicht sehr lukrativ, in diese Gebiete einzuwandern, sie zu erobern, die Bewohner auszurotten oder zu unterwerfen.
    Bei steigender Bevölkerungszahl geht die Rechnung jedoch bald nicht mehr auf. Dort, wo sich Fauna und

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