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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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uns nicht, nachzuhaken.
    Teri und ich aßen und schliefen nicht viel in den ersten Wochen nach der Diagnose. Die meiste Zeit waren wir im Krankenhaus an Isabels Seite. Wir versuchten, auch bei Ella zu sein, die nicht auf die Intensivstation gelassen wurde, obwohl sie Isabel auf der Neurochirurgie besuchen durfte und immer ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberte. Ella schien ziemlich gut mit der Situation fertigzuwerden. Verwandte und Freunde besuchten uns, um Ella über unsere ständige Abwesenheit hinwegzuhelfen. Wenn wir mit ihr über Isabel redeten, hörte sie mit großen Augen zu, besorgt und verwirrt.
    Irgendwann in dieser ersten Zeit erzählte sie uns von ihrem imaginären Bruder. Ihrer Wortflut war zu entnehmen, dass ihr Bruder manchmal ein Jahr alt war, manchmal die High School besuchte und gelegentlich aus irgendwelchen Gründen nach Seattle oder Kalifornien reiste, dann wieder in Chicago war und die abenteuerlichsten Dinge erlebte.
    Dass Kinder in Ellas Alter imaginäre Freunde oder Geschwister haben, ist nicht ungewöhnlich. Ich nehme an, die Erfindung einer Fantasiefigur hat mit der Erweiterung sprachlicher Fähigkeiten zu tun, die zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr zu beobachten ist und die dem Kind einen großen Schatz an Wörtern eröffnet, die es noch nicht mit eigenen Erfahrungen verknüpfen kann. Das Kind muss Geschichten erfinden, um die Wörter auszuprobieren, über die es plötzlich verfügt. Ella kannte nun das Wort » Kalifornien « , hatte aber keine Erfahrungen, die sie damit verbinden konnte, nicht einmal in irgendeinem abstrakten Sinn. Unter Kalifornien konnte sie sich nichts vorstellen. Indem sie ihren imaginären Bruder dorthin schickte und in aller Ausführlichkeit darüber sprach, konnte sie so tun, als kenne sie Kalifornien. Die Wörter verlangten eine Geschichte, eine erfundene Landschaft. Mit diesen erweiterten sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten kann zugleich auch zwischen Außen und Innen unterschieden werden. Das Kind kann sein Innenleben ausdrücken und damit externalisieren. Die Welt verdoppelt sich. Ella konnte nun erzählen, was hier und was anderswo war. In der Sprache konnte das Hier und das Anderswo gleichzeitig stattfinden. Beim Abendessen fragte ich Ella einmal, was ihr Bruder jetzt gerade mache. Er sei in ihrem Zimmer, erklärte sie sachlich, und habe einen Wutanfall.
    Zunächst hatte ihr Bruder keinen Namen. Auf unsere Frage, wie er heiße, antwortete sie: » Googoo Gaga « , was der Ausdruck war, den ihr fünfjähriger Lieblingscousin Malcolm immer verwendete, wenn ihm irgendein Begriff nicht einfiel. Da Charlie Mingus praktisch ein Hausgott bei uns war, schlugen wir ihr den Namen Mingus vor. Und so hieß ihr Bruder fortan Mingus. Bald darauf schenkte Malcolm ihr einen aufblasbaren Alien, der ab sofort ihren existenziell wenig fassbaren Bruder Mingus verkörperte. Obwohl Ella oft mit ihrem aufgeblasenen Mingus spielte, konnte sie ihm aber auch ohne physische Anwesenheit pseudoelterliche Anweisungen erteilen oder von einem seiner Abenteuer erzählen. Während unsere Welt zusehends schrumpfte und nur noch aus nicht endenwollender Furcht bestand, wurde Ellas Welt immer größer und weiter.
    Ein ATRT ist so selten, dass es nur sehr wenige chemotherapeutische Behandlungsprotokolle für diese spezifische Variante gibt. Die verfügbaren Protokolle dokumentieren meist eine abgewandelte, intensivierte Form der Behandlung von Medulloblastomen und anderen Hirntumoren, bei der die Bösartigkeit des ATRT mit besonders starken Medikamenten angegangen wird. In einigen Fällen wird eine fokussierte Bestrahlung praktiziert, die bei Patienten in Isabels Alter jedoch schädliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes hat. Das Protokoll, für das Isabels Onkologen sich entschieden, sah eine extrem starke Chemotherapie in sechs Zyklen vor. Die letzte war so intensiv, dass Isabels noch junge Blutzellen zuvor entnommen und nach der letzten Chemo wieder injiziert werden mussten, um ihr dezimiertes Knochenmark wieder aufzubauen.
    Während der Chemo bekam sie unzählige Transfusionen von Blutplättchen und roten Blutkörperchen, während die Anzahl der weißen Blutkörperchen jedes Mal von allein den normalen Wert erreichen musste. Ihr Immunsystem wurde vorübergehend stillgelegt, und sobald es sich wieder erholt hatte, begann die nächste Chemo. Da Isabel infolge der extensiven Gehirnoperationen nicht mehr sitzen oder stehen konnte, musste sie Beschäftigungs- und Physiotherapie

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